Der junge Regisseur Timofej Kuljabin hat in seinem Theater in Nowosibirsk nach einem Weg gesucht, den Nationalklassiker "Drei Schwestern" neu zu beleuchten. Und siehe da: Das Experiment beeindruckt auch in Wien.

Bis es soweit ist und der eigentümliche Reiz der Aufführung einen gefangen nimmt, dauert es jedoch. Bühnenbildner Oleg Golowko hat das Haus der Prosorows als einen angedeuteten Filmset gestaltet, der an Lars von Triers "Dogville" erinnert: Die Wände sind am Boden mit Klebebändern markiert, dazwischen bieten jede Menge Möbel ungefilterten Realismus. Für Verfremdung sorgt der Dialog, der zunächst durchgehend in Gebärdensprache abgewickelt wird. Der Dienstbote Ferapont wird im Laufe des Abends der Einzige sein, der sich in gesprochenem Russisch verständlich macht. Mit Erhöhung des Erregungspegels mischen sich jedoch zunehmend gutturale Laute in die Kommunikation.

Ganz schön exotisch

Anfänglich überwiegt der Exotismus. Staunend registriert man, wie in Gebärdensprache charmant geplaudert und geflirtet wird. Das Personal des berühmten Tschechow-Stücks gruppiert sich unauffällig um das titelgebende Trio, in dem bald die Kräfteverhältnisse klar sind: Linda Achmetsjanowa ist die Jüngste der drei Schwestern, Irina. Mit langen, dunklen Haaren und einer spürbaren Agilität ist sie das Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie lacht viel und scheint in freudiger, ungeduldiger Erwartung des Lebens, das bei der strengen und ledigen Lehrerin Olga (Irina Kriwonos) und der mondänen, attraktiven Lehrersgattin Mascha (Darja Jemeljanowa) bereits Verwundungen und Verbitterungen hinterlassen hat.

Zwei Akte lang sind es einzelne Bilder und Details, die überraschen und berühren. Als ein Brummkreisel in Fahrt gerät, legt die ganze Frühstücksgesellschaft träumerisch ihre Köpfe auf die Tischplatte, als ausgelassen getanzt wird, muss ein dröhnender Lautsprecher ins Zentrum gerückt werden: Geräusche und Musik werden über die Vibrationen wahrgenommen. Dass die Liebe alle unglücklich macht, ist nichts Neues bei Tschechow - aber wie Soljonys Liebe zu Irina in hilflose, nach Zärtlichkeit schreiende Brutalität umschlägt, ist einer der Wendepunkte der Aufführung.

Ab dem dritten Akt hat Kuljabin, dessen Nowosibirsker "Tannhäuser" aufgrund von organisierten Protesten religiöser Eiferer Skandal machte und zur Absetzung von Inszenierung und Operndirektion führte, jene Wien-Besucher, die sich in den zwei vorangegangenen Pausen noch nicht zum Gehen entschlossen haben, ganz für sich gewonnen: Ein Großbrand macht das Haus zur nächtlichen Flüchtlings-Herberge, in der Glühbirnen nur selten an-, die emotionalen Wogen jedoch hochgehen. Der betrunkene Militärarzt Tschebutykin randaliert und macht aus den Möbeln Kleinholz. Die alte Welt versinkt. Die neue Zeit, repräsentiert durch die kühle und egoistische Schwägerin Natascha (Claudia Kachussowa), übernimmt das Kommando.

Im Finalakt gibt es auf leergeräumter Spielfläche jede Menge tief trauriger Abschiedsszenen. Längst hat sich der Theaterbesucher eingelassen auf den zwar wortlosen, aber um nichts weniger intensiven Gefühlsaustausch. Die drei Schwestern sehen ihre Lebensträume schwinden und halten einander fest. Da fällt ein Schuss. Baron Tusenbach, Irinas ungeliebter Bräutigam, mit dem sie der provinziellen Enge zu entkommen hofft, fällt im Duell. Sekunden später die Erkenntnis: Der Schuss muss ungehört verhallen. Das Schicksal nimmt auch so seinen Lauf. Am Ende großer, herzlicher Beifall für die Besucher aus Sibirien. Nach Moskau? Nach Nowosibirsk!