Der aus Ungarn stammende Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertesz sieht die liberale westliche Welt in Gefahr. "Die Demokratie kann sich nicht selbst schützen", sagte der 85 Jahre alte Schriftsteller. "Sie müsste gleichzeitig nach außen verteidigt und im Inneren bewahrt werden."

Als Auschwitz befreit wurde, waren Sie Lagerhäftling im KZ Buchenwald. Die Befreiung kam für Sie zweieinhalb Monate später, am 11. April 1945. Wie haben Sie sie erlebt?

KERTESZ: Das ist eine sehr komplizierte Geschichte, über die ich lange erzählen könnte. Ich war krank und hatte das außerordentliche Glück, dass man mich schließlich auf eine richtige Krankenstation brachte. Dort blieb ich, bis die Amerikaner das Lager befreiten. Wovon ich gar nichts mitbekam, abgesehen davon, dass der Lagerälteste über die Lautsprecher-Anlage rief: "Kameraden, wir sind frei!"

Sie wurden als 15-Jähriger nach Auschwitz und Buchenwald verschleppt. Wie kam es dazu?

KERTESZ: Ich lebte in Budapest, und die Budapester Juden wurden damals, im Juli 1944, noch nicht deportiert. Als jüdische Jugendliche mussten wir aber etwas arbeiten, wobei wir sogar eine gewisse Auswahl hatten. Ich entschied mich für die Shell-Raffinerie etwas außerhalb von Budapest. Eines Tages wurde der Autobus, der mich zur Arbeit brachte, an einem Kontrollpunkt außerhalb des Stadtgebiets von Budapest angehalten, und alle Juden mussten aussteigen. Wir wurden nach Auschwitz verschleppt. Meine eigene Geschichte ist aber sehr anekdotisch und interessiert mich eigentlich nicht.

Warum?

KERTESZ: Sie ist völlig untypisch.

Was interessiert Sie dann?

KERTESZ: Die Sprache. Wie kann man sechs Millionen Juden einfach ausrotten? In welcher Sprache kann man das aussprechen? Das bezieht sich nicht nur auf Auschwitz, sondern auch auf dieses Land, Ungarn. Denn die Sprache der totalitären Diktatur habe ich zuerst in Auschwitz und Buchenwald und dann noch einmal hier, in der stalinistischen Rákosi-Zeit und unter dem kommunistischen Kádár-Regime, kennengelernt.

Die Erforschung dieser Sprache brachte Sie dazu, den "Roman eines Schicksallosen" zu schreiben?

KERTESZ: Ja. Darin gehe ich der Frage nach: wozu wird - unter den Bedingungen der totalitären Diktaturen - die Sprache; wozu wird der Mensch?

Ihr Buch ist auch deshalb ungewöhnlich, weil es die Geschichte vom Überleben in Auschwitz völlig unsentimental aus der Perspektive eines 14-jährigen Jungen erzählt....

KERTESZ: Im allgemeinen benutzen Autoren Kinder für Kitsch. Nun, auch bei mir kommt ein Kind vor, aber eben nicht, um das Publikum zu rühren. Sondern deshalb, weil in der totalitären Diktatur die sprachliche Artikulation der Menschen auf das Niveau eines Kindes zurückfällt. Deshalb ist für die Hauptfigur György Köves all das natürlich, was widernatürlich ist.

Es erforderte wohl eine unglaubliche Arbeitsleistung, dahin zu gelangen.

KERTESZ:13 Jahre. An dem Roman arbeitete ich 13 Jahre.

Auch das ist ungewöhnlich.

KERTESZ: Ich stellte mir die Aufgabe, die Wirkung dieser neuen, totalitären Sprache zu beschreiben. Arnold Schönberg hob in der Musik die Tonalität auf. Ich fragte mich: Wie lässt sich die Tonalität in Prosa ausdrücken? Schließlich erkannte ich, dass die Tonalität der Prosa die Moral ist, die Kultur. Der Konsens darüber, dass, wenn ich Fernsehapparat sage, darunter ein Fernsehapparat verstanden wird. So fand ich zur atonalen Prosa. Denn die Sprache veränderte sich. Es gab keinen Konsens mehr. Wir erlebten, dass die Kultur zusammengebrochen ist. Jene humanistische Kultur, die in der Zeit von Bach, im Barock noch eine vollständige war, hatte keine Gültigkeit mehr.

Sie betonen immer wieder, dass Auschwitz kein Betriebsunfall war.

KERTESZ: Kein Betriebsunfall, keine Entgleisung der Geschichte, sondern eine Notwendigkeit führte dahin, dass Auschwitz geschehen konnte. Und viele Anzeichen deuten darauf hin, dass es sich wiederholt.

Welche Anzeichen meinen Sie?

KERTESZ: Schon lange bevor es zu diesen jüngsten Anschlägen und Bombenexplosionen kam, vertrat ich die Meinung, dass sich die Demokratie nicht selbst schützen kann. Dass sie sich der Gefahr nicht bewusst ist, die auf sie lauert. Können Sie sich zum Beispiel vorstellen, dass Paris in 200 Jahren eine muslimische Stadt sein wird?

Sie meinen, dass die europäische Kultur angegriffen und zerstört werden könnte?

KERTESZ: Ja. Warum nicht? Wenn nicht ein Weg gefunden wird, sie auf demokratischem Wege zu verteidigen. Denn der Angriff erfordert ebenso wie seine Abwehr starke Menschen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass scheinbar im Interesse der Verteidigung der Demokratie gehandelt wird und dabei langsam eine "Grenzwache" entsteht, die auch nach innen gefährlich ist.

Ist das wegen eines bestimmten Anteils von Migranten zu befürchten?

KERTESZ: Das ist nicht der Punkt. Ich denke, dass sich die europäische Kultur und die europäischen Werte nur dann verteidigen lassen, wenn die beiden folgenden Bedingungen erfüllt sind: dass man die Demokratie nach außen verteidigt und sie zugleich im Inneren bewahrt.

Besteht dafür eine Chance?

KERTESZ: Ich weiß es nicht. Vielleicht.

GREGOR MAYER/DPA