Ja - Barbara Kolm:

Es kann nicht Aufgabe der Allgemeinheit sein, jeden ohne Wenn und Aber zu versorgen. Warum soll ein Vermögender, der arbeitsunwillig ist, die gleiche Unterstützung erhalten wie jemand, der in seiner Existenz gefährdet ist?

Jene zu unterstützen, die sich nicht selbst helfen können, ist eine Verpflichtung der Gesellschaft! Das ist eine Frage der sozialen Verantwortung, die wir sowohl als Individuen als auch als Gesellschaft übernehmen, und eine Frage der Prinzipien, für die wir stehen. Eine Frage der politischen Verantwortung und Generationengerechtigkeit ist die Art der Hilfestellung: als Individuen und über private Initiativen, in Form von Umverteilung der Steuereinnahmen oder schlimmstenfalls durch Neuverschuldung. Die neue Regierung hat, um den Standort nachhaltig zu sichern und ihn wieder ins europäische Spitzenfeld zu führen, nun Beschäftigungsanreize und Effizienz in die Arbeitslosenversicherung eingebaut. Dass solche Maßnahmen in Europa längst üblich sind, wird von Kritikern gerne übersehen. Wie sonst könnte man erklären, dass Ausgaben für soziale Sicherung in Deutschland zwischen 1995 bis 2015 um 49,47 Prozent gestiegen sind, in Österreich im gleichen Zeitraum aber um 90,64 Prozent?

Sich das zu holen, was einem vermeintlich zusteht, kann nur funktionieren, wenn man zuvor in das System eingezahlt hat. Das ist Basis des neuen Ansatzes. Es kann nicht die Aufgabe der Allgemeinheit sein, jeden ohne Wenn und Aber zu versorgen. Insbesondere dann nicht, wenn Privatvermögen vorhanden ist. Den Kämpfern für soziale Gerechtigkeit müsste es wichtig sein, dass der Staat die Möglichkeit hat, in ausgewählten Fällen auf Vermögen zuzugreifen! Warum soll ein Vermögender, der arbeitsunwillig ist, die gleiche Unterstützung erhalten wie jemand, der in seiner Existenz gefährdet ist? Es scheint doch recht skurril, dass die linke Forderung nach Vermögenszugriff endet, wenn die betroffene Person nicht arbeitet. Statt konstruktiver Kritik beschränkt sich die Opposition auf hysterische Warnungen vor einem österreichischen „Harz IV“. Um Selbstverantwortung und Gerechtigkeit aber zu gewährleisten, ist das alte, leistungsfremde System, das nichts mit „sozialer Politik“ zu tun hat, sondern nur Bürger in Abhängigkeiten führt, dringend zu reformieren.

Der Vergleich mit „Harz IV“ entbehrt jeder ernsthaften Grundlage. „Arbeitslosengeld neu“ ist u. a. positiv zu bewerten, weil 1. jene, die in höherem Alter arbeitslos werden, ein höheres Arbeitslosengeld und das länger beziehen können; 2. eine Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge und damit eine notwendige Senkung der Lohnnebenkosten kommt; und 3. große Anreize für Arbeitssuchende geboten werden, sich möglichst schnell wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.


Nein - Stephan Schulmeister:

Der Sozialstaat fußt auf dem Prinzip, dass wir einander gegen Grundrisiken wie Krankheit, Unfall oder eben Arbeitslosigkeit solidarisch absichern. Was sind das für Zeiten, in denen eine solche Frage überhaupt debattiert wird?

Was sind das für Zeiten, in denen debattiert wird: Soll der Staat auf das Vermögen von Arbeitslosen zugreifen? Vor 50 Jahren war eine solche Frage undenkbar, weil es keine Frage war. Und in zehn oder 20 Jahren mag die Frage lauten: Soll man ökonomisch wertlose Menschen zwecks Kostensenkung in Lagern konzentrieren? Welche Fragen aufkommen, hängt von der Weltanschauung ab. Begreift man das Leben als Suche nach einem Ausgleich zwischen den Polaritäten des Menschen als individuelles und soziales, als eigennütziges und anteilnehmendes, als rationales und emotionales Wesen, dann begreifen wir uns als Handelnde, die sich dem „Wie soll es sein“, also der Moral, nicht entziehen können. Es gilt: „Das Schicksal des Menschen ist der Mensch“ (Brecht).

Auf Basis einer solchen Haltung wurde der Sozialstaat entwickelt: Wir sichern einander gegen Grundrisiken wie Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit solidarisch ab. Die obige Frage konnte nicht entstehen.

Begreift man Menschen als nur individuelle, nur eigennützige und nur rationale Wesen, deren Egoismen durch die „unsichtbare Hand des Markts“ zum Besten gelenkt werden (wie in der neoliberalen Weltanschauung), dann gilt: „Das Schicksal des Menschen ist der Markt“, ihm hat sich selbst die Politik zu unterwerfen. Dann erübrigt sich die Frage nach dem „Sollen“ und damit jede Moral - nicht aber das Kalkül: Wenn wir Menschen in Not helfen, werden sie dann nicht lernen, Not vorzutäuschen? Werden sie nicht die „soziale Hängematte“ genießen, sich vielleicht sogar ein ganzes Leben „durchschummeln“? Das lehrt uns das „Samariter-Paradox“ des neoliberalen Nobelpreisträgers James Buchanan, das empfehlen die meisten Ökonomen. Erst die durchgängige Ent-Moralisierung hat die Deklassierung der Notleidenden ermöglicht, von Hartz IV in Deutschland bis zur Sonderbehandlung „der“ Griechen oder dem Abdrehen der Aktion 20.000 für Arbeitslose über 50. Erst sie ermöglicht es Politikern, die Konzentration von Flüchtlingen in Lagern zu fordern.

Eine Ideologie, die unsere emotionalen und (daher) anteilnehmenden Teile verkümmern lässt, macht uns egoistisch, kalt und unglücklich. Papst Franziskus hat sich bei den Flüchtlingen entschuldigt: „Ihr werdet als eine Last, ein Problem, ein Kostenfaktor behandelt und seid in Wirklichkeit ein Geschenk.“ Für die Harten und auch die lächelnden Harten ist Franziskus ein greiser „Gutmensch“. Doch ohne seine Haltung werden wir nicht wieder zu uns finden. Und die Frage zum Verschwinden bringen: Soll man Arbeitslosen ihr Vermögen nehmen?