Wie hartnäckig ist die Inflation im Euro-Raum tatsächlich?
GABRIEL FELBERMAYR: Das hängt von der EZB ab. 50 Prozent der Preissteigerung ist angebotsseitig verursacht, die EZB kann durch eine Zinserhöhung und Reduktion der Bilanzmenge kein neues Angebot herbeizaubern. Aber die EZB kann mit konsequenter Kommunikation darauf hinwirken, dass es nicht zu einer Nachfrageinflation wird. Denn wenn die EZB die Erwartung steigender Preise nicht bekämpft, werden auch die Preise weiter steigen, weil Käufe vorgezogen werden.

Die Zinsen für Staatsanleihen etwa Italiens steigen bereits – mit welchen Konsequenzen?
Die Gefahr der Euro-Schuldenkrise taucht nun wieder auf. Die Märkte erwarten höhere Zinsen, das ist auch richtig und gut, aber das ist für Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Zypern ein Problem, auch im Vergleich zu den Kern-Euroländern Deutschland, Österreich und Niederlanden. Das ist eine wirklich schwierige Lage, in der die EZB steckt. Wenn sie die Südländer weiter stützt, treibt sie die Nachfrage an.

... positiv für die Konjunktur.
Ja, wenn wir das bräuchten. Auch ganz ohne Preis-Lohn-Spirale sehen wir für 2022 ein auskömmliches Wachstum, unsere Prognose sieht in Österreich einen Fünfer vor dem Komma und ist auch für die Eurozone insgesamt optimistisch. Aber was wir konjunkturell ganz sicher nicht haben wollen, ist eine Neuauflage der Euro-Schuldenkrise. Das ist ein echt garstiges Dilemma, in dem wir stecken.

Die Erwartung steigender Leitzinsen allein reicht aus, dass die südlichen EU-Länder in die Bredouille geraten?
Erwartungen sind das, worum es eigentlich geht. Draghi trieb es vor zehn Jahren auf die Spitze, als er sagte, er mache, was auch immer notwendig ist. Der Markt hat ihm geglaubt, falls es zu einer spekulativen Attacke auf italienische Staatsanleihen, würde er tun, was er tun muss. Frau Lagarde müsste jetzt sagen: Wenn es zu einer Teuerungsspirale kommen sollte, sich also die Inflation selbst ernährt und aufschaukelt, macht die EZB alles, was notwendig ist, um solche Dynamiken zu unterbrechen. "And believe me, it will be enough", so wie Draghi.

Mit welchen Folgen?
Die Bank hat die Instrumente. Wenn sie spät und massiv einsetzt, kommt eine Rezession – und das wird teuer. Wenn aber die Märkte glauben, dass sie die Inflation niedrig bleibt, dann werden die Zinsspreads für Italien uns andere Staaten gar nicht so relevant und härteren Maßnahmen gar nicht notwendig werden. Wenn man weiter so tut, als wäre es eh kein Problem und keine klaren Signale sendet, kommt der Moment, an dem es wirklich eng wird: Der wird umso grausamer für alle Teilnehmer.

Wie könnte ein goldener Mittelweg zwischen unkontrollierbarer Inflation und Neuauflage der Euro-Schuldenkrise aussehen?
Ein Weg könnte darin bestehen, dass man die orthodoxe Lehrbuchmeinung verlässt und die Aufkaufprogramme beibehält und trotzdem die Zinsen erhöht. Die Notenbank hat mit dem Setzen von Leitzinsen die kurzfristige Zinsentwicklung in der Hand, mit dem Aufkaufen von Staatsanleihen die langfristige.

Ein kreativer Zugang …
Ja, das ist eine sehr ungewöhnliche Vorstellung. Mit Aufkaufprogrammen kann man die Schuldenländer liquide halten, mit höheren Leitzinsen in Bezug auf die Inflationserwartungen der Haushalte, der Unternehmen und Gewerkschaften ein Signal setzen. Das könnte ein Weg sein.

Um die stark steigende Belastung durch hohe Preise zu dämpfen, greift der Staat ein, etwa bei Energie. Sie sehen das kritisch.
Ja. Man muss sich das immer genau anschauen: Wenn man feststellt, die Lebensmittelpreise steigen, – und wir sehen das für die nächsten Monate – dann wäre es fatal, Höchstpreise etwa für Brot einzuführen.

So wie die Franzosen beim Baguette.
Ja, weil das einerseits die Nachfrage nach knappen Lebensmitteln noch erhöht. Und es signalisiert Bäckern, sie sollen nicht zu viel produzieren, weil es keinen gescheiten Preis gibt. Das würde das Angebot verknappen.

Was wäre besser?
Werden Nahrungsmittel und Energie teurer, muss den einkommensschwachen Haushalten geholfen werden. Hier geht es um Transfers. Der Staat kassiert über die Umsatzsteuer bei der Teuerung mit. Dann ist es nur recht, wenn er inflationsindizierte Sozialhilfe bezahlt. Jetzt fördert er die Haushalte mit der Gießkanne – und steigert damit die Kaufkraft derer, die gar kein Problem haben. Er erzeugt damit Inflationsdruck. Doch die Gießkanne muss im Geräteschuppen bleiben. In den USA ist die Inflation sehr viel stärker als in Europa, weil Trump und Biden mit Helikoptergeld allen Amerikanern Geld aufs Konto legten. Das sollten wir nicht nachmachen.

Zahlen hohe Gas- und Ölpreise auf den Umbau der Wirtschaft Richtung Klimaneutralität ein?
Ich glaube ja. Es ist jedenfalls ein verstärktes Preissignal, den Umbau zu beschleunigen. Man müsste noch mehr tun als bisher, um die Investitionen in Unternehmen für alternative Energien zu beschleunigen.

Sie sind seit Oktober Wifo-Chef, hat Sie standortpolitisch etwas überrascht?
Die hohe Resilienz der Wirtschaft. Der letzte Lockdown war deutlich weniger schmerzhaft, als wir es befürchtet haben. Auch im Tourismus läuft es deutlich besser als gedacht. Überraschend ist, dass die seit 2017 am Stock gehende deutsche Industrie Österreich trotz starker Verflechtungen nicht angesteckt hat. Österreich dürfte der bessere Standort sein.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Wir sind im Bereich der Digitalisierung lange nicht gut genug, wir brauchen deutlich mehr Investitionen in die 5G-Abdeckung, die Aufnahme neuer Technologie in Unternehmen ist zu langsam. Wenn es nicht gelingt, die Energiepreise zu deckeln, indem die Erneuerbaren schnell und mächtig ausgebaut werden und steuerliche Belastung minimiert wird, laufen wir in sozialpolitische Gelbwesten-Probleme und international in Wettbewerbsprobleme. Wir brauchen jetzt Antworten.

Doch-nicht-IHS-Chef Lars Feld hat die Diskussion um die Finanzierung der Wirtschaftsforschungsinstitute vom Zaun gebrochen. Sehen auch Sie eine Schieflage?
Da muss man Wifo und IHS trennen, das Wifo ist breiter aufgestellt. Die Absage von Lars Feld führt uns vor Augen, dass es bei den Rahmenbedingungen in Österreich im Vergleich zu den deutschen Instituten noch Luft nach oben gibt. Die Diskussion, wie wir die Unabhängigkeit weiter stärken, muss man jetzt führen. Es gibt keine laufenden Anschläge auf die Unabhängigkeit des Wifo, aber die latente Bedrohung ist immer da und die ist nicht förderlich für freies Arbeiten. Besser akkordierte und längerfristige Finanzierungen über fünf oder sieben Jahre und damit Planungssicherheiten wären sinnvoll. Im Gegenzug gerne mehr Kontrolle durch internationale Evaluierungen.