"Der Mensch ist das naturzerstörende Wirtschaftstier.“ War der Philosoph und Ökonom Max Weber mit diesen Worten vor 100 Jahren radikaler als die „Friday for Future“-Bewegung?
RICHARD DAVID PRECHT: Ja. Dabei greift Weber etwas auf, was der Philosoph und Ökonom John Stewart Mill schon um 1848 forderte: einen stabilen Zustand der Wirtschaft zu erreichen, ohne weiteres Wachstum und weiteren Raubbau an der Natur.

Das zeigt, dass man 100 Jahre und mehr voraussagen kann.
Das Beschriebene ist jedenfalls genau die Aufgabe, die wir für die nächsten 100 Jahre haben, weil wenn wir weiterwirtschaften wie bisher, wird es in 100 Jahren keine für den Menschen bewohnbare Erde mehr geben.

Gibt es in 100 Jahren die – oft totgesagte – gedruckte Zeitung?
Zeitungen, wie wir sie jetzt vorfinden, wohl nicht. In 20 Jahren wird es in gewisser Form noch gedruckte Zeitung geben, aber weiter wage ich nicht zu denken, das traue ich mir nicht zu.

Das Interview mit Ihnen würde ein von künstlicher Intelligenz gesteuerter Chatbot führen?
Das glaube ich ehrlich gesagt nicht, weil es einen Unterschied macht für mich als Leser, ob ich weiß, das hat ein Mensch geführt mit all seiner Irrationalität, seinen Emotionen, seinen persönlichen Vorzügen, und nicht eine programmierte Maschine. Wir werden lernen, diesen Unterschied sehr genau zu nehmen. Nicht alles wird von künstlicher Intelligenz übernommen, sondern wir werden lernen, wozu sie gut ist und wofür wir sie haben wollen.

Was von menschlicher Empathie gesteuert ist, wird auch in Zukunft Bestand haben?
Jedenfalls werden Menschen Wert darauf legen, mit Menschen zu tun zu haben – in der Altenpflege, in der Unterhaltung, in vielen sozialen Bereichen und auch beim pädagogischen Personal. Das Bedürfnis danach wird nicht weggehen.

Im Buch „Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie der digitalen Gesellschaft“ sehen Sie Lohnarbeitsgesellschaft durch Tätigkeitsgesellschaft ersetzt. Der Lohn der Tat?
Es wird eine Gesellschaft, in der die Menschen etwas tun, was sinnvoll ist, und das bezahlt oder nicht bezahlt sein kann. Es ist auch völlig unklar, ob es in 50 oder 100 Jahren noch Geld gibt, wie wir es jetzt haben.

Mit Ihrer Utopie der Muße ist ein Grundeinkommen für alle verbunden. Zweifel bleiben, ob das alle zu sinnvollen Tätigkeiten ermuntern oder befeuern wird.
Ja, diese Zweifel sind berechtigt, weil die Tätigkeitsgesellschaft die sinnvolle Arbeit zwar besser ermöglicht als jetzt, aber es reicht nicht aus. Grundeinkommen ist nicht die Lösung des Problems, das die Digitalisierung aufwirft, sondern nur ein Teil von mehreren Ideen.

Der deutsche Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, meinte vor 200 Jahren, die größte Sinnlichkeit bestehe in der Ruhe nach der Arbeit. Die Evolution wäre bei Ihnen Sinnlichkeit aus der Selbsterfindung der Tätigkeit?
Kant hatte natürlich die harte Arbeit der Bauern auf dem Feld vor Augen. Im Landleben war die Sinnlichkeit natürlich im Ausruhen. Aber schon jetzt haben wir Tätigkeiten, wo Sinnlichkeit in diesen selbst liegt.

In der Digitalisierung sprechen wir derzeit noch von schwacher künstlicher Intelligenz. Jetzt arbeiten Sie an einem Buch über eine Zukunft mit starker künstlicher Intelligenz. Wie stellen Sie sich da unsere Gesellschaft vor?
Ehrlich gesagt versagt mir da die Fantasie. Es fällt mir leicht, den Menschen die Angst vor starker künstlicher Intelligenz zu nehmen. Ich halte die Möglichkeit, dass ich diese noch erlebe, aber für äußerst gering. Das wird noch lange dauern.

Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas verweist auf den ewigen Widerstreit zwischen Demokratie und Kapitalismus um die Vorrangstellung. Big Data erledigt das demokratiegefährdend zugunsten des Kapitalismus?
Die Europäische Datenschutzgrundverordnung hat, bei allen Defiziten, gezeigt, dass die Staatengemeinschaft sich darüber Gedanken macht. Manchmal muss das Kind vielleicht auch zuerst einmal in den Brunnen fallen und muss Datenmissbrauch ein gewisses Maß überschreiten, bis man diese Firewall als Grenze einzieht. Man produziert heute Kleider mit Sensoren, die die Emotionalität des Menschen überwachen, wann er schwitzt oder Freude empfindet. Das sind Dinge, die mir Angst bereiten. In welchen Raum kann der Kapitalismus noch voranschreiten, den er nicht schon durchforscht hat? Früher dachte man, das wäre das Weltall. Heute weiß man: Es ist die Identität.

Die Reportage in 100 Jahren liefert weder KI noch ein Journalist, sondern ein frei zugängliches Überwachungskameranetz, vielleicht namens „Everstream“, oder behalten sich das Diktatoren vor?
Ich finde es interessant, dass die Menschen, die Allüberwachung vorantreiben, sich selbst an allerdunkelsten Orten am wohlsten fühlen. Niemand sah je ins Haus von Marc Zuckerberg, da stehen keine Kameras. Ich bin überzeugt, dass Transparenz immer ein Wert bleiben wird. Es gab extrem gefilterte Information, als es nur zwei Fernsehprogramme gab. Mit der Informationsflut heute gehen viele gut um, manche werden blöd davon. Pöbelkultur und Alarmismus sollten aus dem Alltag.


Die Präambel der Kleine-Zeitung-Erstausgabe von 1914, für Orientierung und Nachrichten in der Region zu sorgen, bleibt bis ins 22. Jahrhundert gültig?
Regionale Medien haben auch in Zukunft die wichtige Aufgabe, Identität und Gemeinschaft zu stiften. Medien müssen, um zu überleben, einen ethischen Mehrwert schaffen.

Zur Person

Richard David Precht, deutscher Philosoph und
Publizist, legt in seinem Buch „Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie der digitalen Gesellschaft“ seine Vision der Tätigkeitsgesellschaft mit allgemeinem Grundeinkommen dar. Das Gespräch mit ihm fand in der Vorwoche am Innovationskongress in Villach statt.