Die Vision der vernetzten und automatisierten Arbeit begleitet uns schon lange – wo stehen wir auf diesem Weg?
FRANZ KÜHMAYER: Wir sind absolut mittendrin, die Digitalisierung ist im Alltag angekommen. Wir sind bereits von Künstlicher Intelligenz umgeben. Man braucht sich nicht vorzubereiten – man muss tun.

Hatten die Kassandrarufer, die uns den Verlust Zehntausender Jobs prophezeit haben, Unrecht?
Mit der Disruption ist es so ein Thema: Wir überschätzen, was in einem Jahr möglich ist und unterschätzen, was in zehn Jahren möglich ist. Deswegen ist es gefährlich, sich auszuruhen und zu glauben, man kann weiter tun wie bisher. Ich bin kein Kassandrarufer, der meint, Büros und Fabrikhallen würden entvölkert. Aber wir brauchen einen Weckruf an alle: Man muss erstens selbst in Qualifikationen und Bildung investieren. Und man muss zweitens die Veränderung verstehen, welche Art von Tätigkeit an Bedeutung gewinnt. Das Wettrennen gegen die Maschinen gewinnen wir nicht durch das Denken.

Sondern?
Durch das, was uns als Menschen auszeichnet: Wir sind empathische, soziale Wesen und schöpferische Wesen. Berufe, die diese Facetten haben, gewinnen an Bedeutung. Und Berufe, die diese Facetten nicht benötigen, verlieren an Bedeutung – unabhängig von der Qualifikation. Wir erleben, dass die Digitalisierung in die hoch qualifizierten Berufe hineingeht: Medizinische Prognostik über KI (Künstliche Intelligenz; Anmerkung) ist besser als bestqualifizierte Fachkräfte sein können: Der Facharzt sieht tausende Fallzahlen, KI weltweit Millionen.

Was bedeutet das für Ärzte, Arbeitnehmer und Unternehmer?
In dieses Wettrennen dürfen Menschen gar nicht hinein: Sie können nicht besser rechnen, denken, analysieren, schlussfolgern als eine Maschine. Das zu zu verstehen fällt uns psychologisch überraschend schwer. Es versucht ja auch keiner, schwerer zu heben als ein Gabelstapler oder schneller zu rennen als ein Auto. Wenn die Maschinen bessere Maschinen werden, müssen wir Menschen bessere Menschen sein.

Was verstehen Sie unter „schöpferische Wesen“?
Menschen, die etwas Neues auf die Welt bringen. Da stellen sich zwei Schlüsselfragen: Wo kommen die frischen Ideen her? Und: Wie überleben die bei mir im Unternehmen? Wenn ich mir jemanden hole, der mich herausfordert, habe ich einen Störfaktor im Unternehmen.

Wie soll Unternehmen solche Querdenker behandeln?
Früher standen die Entscheider an der Spitze. Die Deutungshoheit ist ihnen abhandengekommen. Die Führung wird sich in die Mitte der Organisation verlagern. Wenn ich nicht mehr der Kapitän auf der Brücke bin, muss ich Verantwortung an die Besatzung abgeben.

Wo steht dann der Chef?
Führung ist eine Dienstleistung am Unternehmen und an den Menschen der Organisation. Da stecken zwei Worte drin: Dienen und leisten. Führungskräfte sind wahnsinnig auf den Leistungsaspekt fokussiert. Der Dienen-Aspekt kommt zu kurz. Was Digitalisierung macht: Das Dienen gewinnt an Bedeutung. Meine Aufgabe als Führungskraft ist es dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter bestmöglich arbeiten können und dann aus dem Weg zu gehen.

Welche Konsequenzen sehen Sie für die Gesellschaft?
Man muss Lohn nicht mehr nur betriebswirtschaftlich, sondern volkswirtschaftlich denken. Als Ausdruck des gesellschaftlichen Nutzens – so gesehen passen der Lohn einer Pflegerin oder einer Kindergärtnerin und der eines Analysten nicht mehr zusammen. Uns fehlt aber eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit der Sprengkraft der Digitalisierung. Unser Bild von morgen ist viel zu naiv – wir glauben, dass das Morgen eine Fortschreibung des Heute ist, mit ein bisserl mehr Effizienz, Social Media und Smartphone.