Vor Kurzem hat jemand mir in einem Gespräch das Zitat von Winston Churchill in Erinnerung gerufen „Never waste a good crisis“, man dürfe niemals eine gute Krise vergeuden. Was würden Sie darunter verstehen?

Wolfgang Anzengruber: Es muss ganz klar werden, in welche Richtung wir investieren wollen. Investieren wir zurück in eine Richtung wie vor der Krise? Oder nutzen wir die hunderten Milliarden, die in Europa in die Wirtschaft gepumpt werden, für Weichenstellungen. Der Green Deal der EU ist gut. Großes Kompliment an Brüssel.

Hilft es, wenn Europa den Vorreiter spielt, aber andere große Staaten zuschauen und sich weitere zehn, 20 Jahre Zeit lassen?

Natürlich wäre eine ähnliche Taktzahl der Akteure schön, aber oft haben Entwicklungen schon gezeigt, wenn Europa vorangeht, sind wir Benchmark für andere.

Der Chef der Internationalen Energie Agentur mahnt in den nächsten Jahren 850 Milliarden Euro an Investitionen von der globalen Energiewirtschaft ein - immerhin jährlich bis 2023, damit sie demnächst nicht einen Temperaturanstieg von 1,65 Grad zu verantworten hat. Wie realistisch ist das? 

Das sind große Summen, aber man muss bitte die Gegenrechnung aufmachen, was es uns kostet, wenn wir es nicht tun. Dieser Betrag wird deutlich größer werden. Die Frage kann nicht lauten, wollen wir uns das leisten. Die Frage ist, was müssen wir uns leisten. Wenn wir nicht ungefähr zu den im Klimaabkommen von Paris vereinbarten 1,5 Grad hinkommen, dann verschiebt sich die Welt. Investitionsprogramme sind ja auch etwas Gutes.

Was wäre im Sinne des Green Deal das Wichtigste?

Ein sehr großer Schritt, ein guter Hebel wäre eine vernünftige CO-2-Bepreisung, wenn sie alle Bereiche umfasst.

Hier ist das ja noch nicht so. Passiert bei dem Thema zu wenig?

Wir dürfen einfach nicht vergessen, dass durch Corona die Klima-Krise nicht vorbei ist. Ich denke, das ist den politischen Akteuren bewußt. Noch sind aber im ETS, unserem grundsätzlich sehr guten Zertifikate-System, mehr als 50 Prozent der Emissionen nicht einbezogen, die großen Bereiche Verkehr und Heizen. Da sind uns die Deutschen deutlich voraus, weil es eine klare Perspektive gibt, wie der Preis beginnend mit 25 Euro steigt. Damit kann man rechnen und planen.

Immerhin kann der Verbund jetzt zufrieden mit dem neuen Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz sein.

Darauf haben wir wegen der Regierungswechsel lange gewartet. Vieles trifft gut, was wir brauchen, manches nicht.

Was gefällt Ihnen daran nicht?

Es gibt kurzfristig Handlungsbedarf beim Engpass-Management für die  Versorgungssicherheit. Derzeit sieht es so aus, dass für das Gaskraftwerk Mellach, das als Reserve einspringt, der Vertrag maximal zwei Jahre laufen soll. Wir brauchen aber mindestens drei, besser fünf Jahre.

In Kürze will die Regierung eine Wasserstoff-Strategie präsentieren. Haben Sie Einblick, was da kommen wird?

Ja, die soll bald das Licht der Welt erblicken. Das ist ein wahnsinig wichtiges Thema bei der Dekarbonisierung, vor allem in der Industrie.

Trägt die Strategie den Titel, wir werden Wasserstoff-Nation Nummer Eins?

Das hat Deutschland bei der Präsentation seiner Strategie auch schon verkündet. Das sieht doch nach gutem Wettbewerb aus.

Ist das nicht eine grenzüberschreitende Herausforderung und deshalb enge Koordinierung gefragt?

Da bin ich zu hundert Prozent bei Ihnen. Autarkie-Fantasien brauchen wir alle nicht. Deutschland wird sich wohl auf den Norden konzentrieren, etwa Offshore-Windparks im Norden, Italien auf Nordafrika. Großes Potenzial gibt es auch in Osteuropa. Oberste Prämisse bei allem wird ein noch engerer Schulterschluss mit der Industrie sein. Die Stahlindustrie, die Chemieindustrie, beide können relativ schnell in Richtung Wasserstoff gehen. Wir kommen jetzt an einen Punkt, dass das auch investitions-technisch machbar wird. Investitionen müssen sich rechnen, sonst werden sie nicht stattfinden.

Ist man schon an einer solchen Schwelle, wenn wir über die gemeinsame Wasserstoff-Versuchsanlage mit der Voest reden?

Die Anlage läuft gut. Von den Wirkungsgraden hat sie unsere Erwartungen sogar übertroffen. Der Zusatznutzen ist auch da, weil wir Strom in den Regelmarkt einspeisen können. Aber man muss klar sagen: grüner Wasserstoff ist noch nicht wirtschaftlich. Ein CO2-Preis würde wenigstens das Spielfeld für alle gleich machen. Wir brauchen Förderungen, auch für Brückentechnologien wie etwa Carbon Capture and Utilisation. Mit verstärktem Einsatz werden auch die Kosten für Elektrolyse-Anlagen sinken.

Cabron Capture Utilisation, das ist die Bindung von CO2 in industriellen Prozessen, oder?

Ja, sehr vereinfacht ausgedrückt ist das CO2-Recycling.

Wie viel Fördergeld braucht es für den Wasserstoff-Anschub?

Das kann ich nicht sagen. Klar ist, dass wir in Österreich 1,2 Millionen Tonnen im Sinne des 1,5-Grad-Ziels brauchen, nur ein Viertel würden wir in Österreich selbst produzieren können.

Der Verbund arbeitet bei vielen Projekten mit der OMV zusammen. Ist der Verbund grünes Feigenblatt des fossilen Konzerns?

Jeder Weg, auch der längste, braucht kleine Schritte. Der erste war Smatrics in der E-Mobility, jetzt die Fotovoltaik, künftig das Thema Wasserstoff. Es finden Veränderungen statt. Sehen Sie sich die Ankündigungen der globalen Ölkonzerne an, wie CO2-neutral die in ein paar Jahrzehnten sein wollen. 

Die Konjunktur ist am Boden, der Verbund ist von Corona kaum betroffen, der Gesetz-Rahmen ist auch da, wann dreht der Konzern den Geldhahn bei den Investitionen auf? Immerhin könnten das zwischen 3,5 und 5,5 Milliarden Euro über einige Jahre sein.

Finanziell sind wir startklar, die Projektliste ist lang mit rund 30 Positionen je Wertschöpfungskette, also etwa in der Wasserkraft oder den Erneuerbaren. Wir werden mehr mit der OMV machen und weitere Kooperationen mit der Industrie eingehen - auch im Ausland.

Es wird natürlich keine 30 neuen Wasserkraftwerke geben?

Nein, es gibt nur ein paar wenige Projekte für neue Kraftwerke. Wir setzen vor allem auf Effizienzsteigerung zum Beispiel durch Turbinentausch. Dadurch können wir zehn bis 20 Prozent mehr Leistung herausholen. Das sind die ökologisch sinnvollsten Investitionen.

Sie sind in der Finanzkrise Verbund-Chef geworden und gehen in der Corona-Krise. Zwölf Jahre mit vielen Meilensteinen. Was war der Wichtigste?

2009 mitten in der Finanzkrise zu entscheiden, keinen Euro mehr in fossile Anlagen zu investieren. Da war noch das Gaskraftwerk Mellach in Bau. Viele haben gesagt, der Anzengruber ist verrückt.

Wieso war Ihnen dann damals der weitgehende Ausstieg aus fossiler Stromerzeugung so klar?

Das kam auf zwei Schienen. Auf der einen Seite ist da unsere DNA, die Wasserkraft. Die zweite war die Überzeugung, Ressourcen unwiderbringlich zu vernichten, das ist physikalisch der falsche Weg. Fossile Stromerzeugung ist nicht recyclebar.

Jetzt können Sie es ja sagen: Sie wollten Mellach, das Gaskraftwerk, nie verkaufen, oder?

Wir mussten den Markt testen. Wir haben das um 650 Millionen Euro gebaut und gewußt, dieses Geld wird es nie mehr verdienen können. So ist das Leben, damit müssen wir umgehen können. Also haben wir es ordentlich abgeschrieben.

Was hätten Sie denn von den Bietern gekriegt?

Das sage ich jetzt nicht.

Die kürzlich zu 51 Prozent übernommene Gas Connect Austria hat der Verbund mit 271 Millionen Euro günstig bekommen?

Wir haben die Schulden ja auch übernommen, es war ein fairer Preis. Die GCA liefert positive Ergebnisse, noch wichtiger ist aber der strategische Faktor für den Wechsel von fossilen zu synthetischen Gasen. Dafür die Infrastruktur zu haben, ist auch volkswirtschaftlich enorm wichtig.  

Derzeit ist durch Corona der Strompreis unter Druck, wie könnte er aber mittelfristig steigen?

Das ist eine Frage von CO2-Preisen und Kostensenkungen bei den Erneuerbaren und immer natürlich der Marktlage. Dass er langfristig nach unten geht, glaube ich nicht. 

Werden die gut 500 Millionen Euro, die als Jahresgewinn prognostiziert werden, in Zukunft überbietbar sein?

Bäume wachsen nicht in den Himmel. Aber wir sind finanziell sehr stark, haben viel Eigenkapital, genug Cashflow für Investitionen. Der Kapitalmarkt nimmt uns Ernst. Insofern ist die Frage entweder Wirtschaft oder Umwelt Blödsinn. Wir zeigen: Beides geht.

Welche CO2-sparenden Investitionen machen Sie selbst oder können Sie empfehlen?

Über mehrere Jahre und bei allen Kosten betrachtet sind Elektroautos unter dem Strich billiger als Verbrenner. Privat ist meine Familie seit sieben Jahren mit einem kleinen Auto elektrisch unterwegs und hatten noch nie ein technisches Problem. Für meine neue Wiener Wohnung habe ich eine Wärmepumpe am Balkon installieren lassen. Wer in Fotovoltaik investieren will, findet gute Bedingungen vor.

Was sagen Sie zum umstrittenen Lithium-Abbau für die Batterien?

Klar gibt es Punkte, die nicht so toll sind. Die Entwicklung wird in Richtung Feststoff-Batterien weiter gehen, um aus Lithium herauszukommen. Trotzdem wundere ich mich, wenn ich diese Argumente höre, aber der einfache Vergleich nicht angestellt wird. Ist Öl- und Gasförderung ökologisch unbedenklich? Sind das lauter vorbildliche demokratische Staaten, wo die gefördert werden?

Darf ich noch ein paar Dinge zu Ihrer Wärmepumpe auf dem Balkon fragen? Wie einfach geht so etwas? 

Sehr einfach. Und in die Garage kommt eine Ladestation fürs Auto.

Weil Sie der Herr Anzengruber sind.

Ich muss sie eh zahlen, ich kriege sie nicht geschenkt. Man braucht einen eigenen Zähler, aber das ist es mir wert. Wollen Sie noch mehr in diese Richtung hören?

Ja, gerne.

In meinem Familienhaus in Salzburg habe ich eine Tiefen-Wärmepumpe mit Erdbohrung machen lassen, mit der kann man auch konventionelle Heizkörper beschicken. Bei der Wärmepumpe auf dem Balkon ist es eine Fußbodenheizung.

Wie gehen Sie an solche privaten Investitionen heran? Denken Sie, ich will öko sein oder spitzen Sie den Bleistift, wann sich so eine Anlage rechnet?

Beides. Wir alle werden solche Entscheidungen treffen müssen, deshalb wäre CO2-Bepreisung so wichtig. Niemand soll seine Heizung herausreißen, aber wir kommen überall in Re-Investitions-Zyklen, dann muss ich wissen, wohin die Reise geht. Die Gefahr, dass man unwirtschaftlich agiert, besteht immer. Aber haben Sie sich jemals die Anschaffung eines normalen Autos rein wirtschaftlich durchgerechnet?

Ich gestehe, nein.

Das ist fast ausschließlich eine emotionale Entscheidung. Privat tun wir Vieles einfach weil wir es wollen. Ganz anders als auf der Unternehmensebene, wo alles knallhart berechnet wird.

Noch etwas ganz anderes: Wissen Sie, wie viel Plastikmüll an den Kraftwerks-Rechen aus der Donau gefischt wird?

In Tonnen weiß ich es nicht, aber es sind Unmengen. Warum fragen Sie das?

Weil ich einmal bei einem Blick hinter die Kulisen gesehen habe, welche Mengen Plastikflaschen im Stauraum geschwommen sind. Schockierend. Daraus folgere ich die Frage, ob Umweltministerin Leonore Gewessler genug vom Koalitionspartner ÖVP unterstützt wird? Bei Ihren Plänen gegen die Plastikflut.

Das ist eine politische Frage, die beantworte ich nicht gerne.

Sie gehen als Vorstand ohnedies in ein paar Wochen.

Also, gewisse Dinge könnte man sicher ohne jeden Verlust von Lebensqualität machen. Alles bewahren zu wollen, sich ja nicht zu verändern, diese Haltung verstehe ich nicht ganz. 

Was werden Sie künftig tun?

In irgendeiner Form möchte ich dem Thema Energiewirtschaft verbunden bleiben, fixiert ist aber noch nichts.