Nicht umsonst eine der beliebtesten Marmeladen: die Isabellatraube
Nicht umsonst eine der beliebtesten Marmeladen: die Isabellatraube © Juergen Fuchs (FUCHS Juergen)

Hier im Stadtpark fallen die Dirndln von den Bäumen. Erstaunlich ist, dass das niemandem auffällt. Ruhig flanieren die Fußgänger vorbei und niemand nimmt Notiz von den blutroten Früchten, die da so in aller Öffentlichkeit ihr Leben aushauchen würden, wenn Andrea Possanner das zuließe. Tut sie aber nicht. Mit der Geschwindigkeit eines Notarztwagens klaubt sie jetzt die blutroten Früchte in die Schachtel. Dafür, dass der Fotograf nun auch noch das eine oder andere Bild von ihr machen soll, erntet er gerade gar kein Verständnis: „Ich bin doch beim Ernten!“, protestiert sie. Und klar, die Dirndln gehen vor, allzu lange sollte man sich auch dafür nicht Zeit lassen, denn die Früchte, die alles, nur nicht süß sind, sondern sauer, befinden sich gerade im Idealzu­stand – im Idealzustand für Possanner. Und das heißt, wie sie ihren Praktikanten erklärt: „Wir holen die vom Boden, die kleinen, die können ruhig runz­lig sein – das sind für uns die guten Dirndln.“

Schönheit ist kein Anforderungsprofil, das sie an die Früchte stellt, die sie seit rund fünfeinhalb Jahren unter der Marke „Jamsession“ zu Marmelade oder Chutneys verarbeitet. Regionalität schon, und die hat bei Jamsession eine ausgeprägte Vielfalt: Das können – wie die Dirndln – Früchte aus dem öffentlichen Raum sein oder Gemüse, das Menschen vorbeibringen, weil sie einen Überschuss haben. Oder wie Possanner sie alle gemeinsam nennt: „Findlinge, Waisen, Diven, Weggefährten, Schätze, Naturschönheiten von der Stange, in Vergessenheit Geratene oder gut Gezogene.“ Die Prämisse ist: Es wird verarbeitet, was anderswo nicht gebraucht wird. ­Dafür bedarf es einer speziellen Voraussetzung, die Patrizia, Praktikantin und Studentin des FH-Lehrgangs „Nachhaltiges Management“, bei Possanner gelernt hat: „Man kriegt ein Auge für Dinge, die man im Alltag viel zu wenig sieht. Viele Leute ­haben diese Wertschätzung nicht.“
10.000 Gläser von süß über salzig bis scharf werden in der Werkstatt in der Beethovenstraße in Graz hergestellt. Der Vertrieb erfolgt über den Webshop, über Wiederverkäufer und natürlich über Veranstaltungen wie den Fesch­markt, Edelstoff oder den Kunst- & Designmarkt: „Diese Plattformen sind ganz wichtig. Einfach auch, um bekannt zu werden.“ Aber Kunden, die spontan vorbeikommen, sind ebenso herzlich willkommen. Auch das ist eine Form von Nachhaltigkeit: miteinander ins Gespräch zu kommen. Ein Prinzip, das die 46-Jährige schon in ihrem Brotberuf, der Architektur, verfolgt hat: „Architektur und Planung ist gleich Kommunikation – das ist mein Leitsatz.“

Längst haben sich die Dinge umgekehrt: Waren unter den Architekturkunden früher auch Marmeladekunden, so kann es mittlerweile schon passieren, dass sich während des Marmeladenkaufs ein künftiges Projekt anbahnt. Architektur und Marmelade – das gehört für sie zusammen, auch wenn sie selbst sagt, „ich bin da zufällig einfach reingerutscht“ in diesen Wald aus #handmade #homemade #regional #saisonal.

Ganz zufällig war das natürlich nicht, sondern der Wunsch nach einer anderen Lebensweise: „Ich habe Bauleitung gemacht und das ist so stressig, dass ich nachher in jeder freien Minute in den Wald gelaufen bin und versucht habe, das abzugeben, was auf mich geladen wurde. Und dann habe ich eben so viel gesammelt, dass ich nicht mehr gewusst habe, was ich mit den Eierschwammerln, den Hagebutten und den anderen Dingen tun soll.“


Nachdem die Verwandtschaft versorgt war, kam die Idee mit dem Verkauf. Gemeinsam mit ihrer Schwester hat sie vor fünfeinhalb Jahren „Jamsession“ gegründet. Mittlerweile gibt es über 50 verschiedene Köstlichkeiten im Programm, das sich ganz den angebotenen Ressourcen unterwirft.

Denn die ständige Verfügbarkeit, die wir aus dem Supermarkt kennen, ist hier nicht Programm. Dafür können schon einmal kurzfristig ein paar Gläser Mispeln oder andere Raritäten dazukommen. Längst ist Andrea Possanner, die seit vielen Jahren in der Grazer Urban-Gardening-Szene aktiv ist, über „normale“ Marmeladen hinausgewachsen und in die Experimentierphase eingetaucht.

Andrea Possaner schmeckt im Kopf. Dabei fragt sie sich, was das ­verbindende ­Element ist.
Andrea Possaner schmeckt im Kopf. Dabei fragt sie sich, was das ­verbindende ­Element ist. © Juergen Fuchs (FUCHS Juergen)


Woher sie die Rezepte hat? Sie tippt auf den Kopf und lacht: „Ich schmecke im Kopf. Dabei frage ich mich, was das verbindende Element ist. Was wächst am gleichen Ort oder zur gleichen Zeit und wie unterstützt es sich gegenseitig, aber übertönt sich nicht? Wie etwa bei Zitrone, Chili und Thymian oder Marille, Rosmarin und schwarzem Pfeffer. Dann probiere ich es aus und meistens passt es.“

Apropos passen: Noch ist bei „Jamsession“ Luft nach oben. Um das Doppelte darf die Marmeladenschmiede schon noch wachsen. Aber mit Bedacht, wie die Hausherrin unterstreicht: „Ich möchte langsam wachsen, damit auch ich selbst mitkann.“ Denn das Tempo bestimmt sie selbst, aber wenn man ihr zuschaut, wie sie gerade die Isabella­trauben durch die flotte Lotte jagt, könnte es recht schnell gehen. Die nächsten Projekte stehen ohnehin schon in der Pipeline. Und natürlich geht es dabei wieder um die Früchte unserer Wegwerfgesellschaft. Das sei sinnstiftend und damit kennt sich Andrea Possanner ziemlich gut aus: „Ich möchte meine Lebenszeit mit Dingen verbringen, die ich gerne mache. Ich will keinen Job haben, der mir keinen Spaß macht.“