Die Krise der Pandemie hat uns gefordert und in manchen Aspekten wohl auch überfordert. Das zeigt sich in vielem: In den Parlamenten wurde in Wortwahl und Lautstärke die Debattenkultur teils schmerzlich nach unten nivelliert. Medien überdeckten ihre nachvollziehbare Ratlosigkeit mit teils schrillen Überschriften. Die sozialen Netzwerke ließen und lassen (zu) vieles zu, bedauerlicherweise teils faktenfern, teils einfach nur grauslich. Politiker und Politikerinnen beschimpf(t)en sich gegenseitig – giftig und als ob es kein gemeinsames Morgen mehr gäbe. Covid-19 als globale Krise hat auch vorhandene gesellschaftliche Verwerfungen und Missstände in unterschiedlichen Bereichen grell ans Licht gebracht. Mitte scheint im spalterischen Geplänkel zwischen immer extremeren Polen verloren zu gehen. Bemerkenswert viele fühlten und fühlen sich trotz der Komplexität der Krise (oder gerade deswegen?) in der Lage, Urteile darüber zu fällen, was sicher richtig oder sicher falsch sei: Die Gesundheitsstrategien, die Lockdownstrategien, die Wirtschaftsrettungsstrategien, die Impfstrategien usw.?

Es ist offensichtlich Zeit, uns als Gesamtgesellschaft zu überlegen, wo wir stehen, wie weit wir sind, wie viel oder auch wie wenig demokratiestärkende Handlungskultur wir haben und wie viel oder auch wie wenig Vertrauen als Grundwasser demokratischer Gesellschaften noch vorhanden ist. Zu selten wurden gemeinsam auch Fragen diskutiert: Was war und ist gut? Was muss und kann korrigiert oder gelernt werden?

Aber, ist das zunächst nicht auch normal bei so einer Krise? Die Pandemie hatte viel Angst machendes und bedrohliches an sich. Keiner hatte eine befriedigende Antwort auf die Frage: wie geht es weiter? Es herrschte ein Übermaß an Unsicherheit bezogen auf Leib und Leben und eigene Zukunft. Da sind aggressives Verhalten, Schimpfen, Klagen und manchmal wohl auch maßloses Kritisieren verständliche, weil allzu menschliche Reaktionsweisen. Allerdings, diese Reaktionsweisen verbessern selten die Situation, steigern auch nicht die Zufriedenheit der Menschen und bieten keine Orientierung.

Eine andere und höchstwahrscheinlich fruchtbarere Umgangsweise könnte eine neue Besonnenheit sein. Besonnenheit leitet sich aus dem Verb „sich besinnen“ ab und zeigt sich in einem entsprechenden Denken, Reden und Handeln. Ein Ur-Gut des Europäischen Menschenbildes ist die von Aristoteles entfaltete ethische Lehre der Kardinaltugenden. Zu den Kardinaltugenden gehört neben der Klugheit (prudentia), Gerechtigkeit (iustitia) und Tapferkeit (fortitudo) auch die Besonnenheit/das Maß halten (temperantia). Besonnenheit im Sinne von Maßhalten im Denken, Reden und Handeln könnte zur Bewältigung der gegenwärtigen Krise und deren Folgen besonders hilfreich sein.

Was zeichnet einen besonnenen Menschen aus? Der besonnene Mensch ist prinzipiell ein guter Demokrat. Trotz Leidenschaft verliert er nicht seinen Kopf. Er sieht nicht auf andere von oben oder von unten herab und beurteilt nie ohne Wertschätzung ihre Handlungen und Entscheidungen. Es geht ihm um die Sache. Der Besonnene denkt kritisch, auch im Sinne der Selbstkritik. Er hält immer ein bisschen Abstand, um anderen nicht zu nahezutreten, aber auch um besser zu sehen und zu erkennen, was es mit dem Einzelnen und dem Ganzen auf sich hat. Alles ist für den Besonnenen relativ. Dies ist nicht im Sinne von Gleichgültigkeit zu verstehen, sondern im Sinne einer Bezogenheit auf das je Bessere in Gesundheit, Politik, Wirtschaft, Kultur etc.. Was ist gut für eine Gesellschaft? Was ist eine gute Gesellschaft?

Große Aufgaben sind nur gemeinsam zu bewältigen. Die Covid-19 Krise ist eine große Aufgabe. Gemeinsamkeit und Kooperationsbereitschaft liegen der Besonnenheit zugrunde. In einer Krise ist hingegen gesellschaftliche Spaltung die Gefahr: wir tendieren zu Absolutheiten im Urteil, Rechthabereien und Abgrenzung, Schwarz-Weiß eben. Der besonnene Mensch widersteht individuellen und kollektiven Absolutheiten, weil er fähig ist, Probleme von mehreren Seiten aus zu betrachten.

In einer Krise müssen Entscheidungen oft rasch getroffen werden, sie sichern Handlungsfähigkeit. Der besonnene Mensch weiß aber, dass Entscheidungen revidiert werden müssen, wenn neue Erkenntnisse gewonnen wurden. Dann sind eben neue Entscheidungen zu treffen. Der besonnene Mensch weiß, dass das dynamische Zueinander von Versuch und Irrtum das eigentlich menschliche Erfolgsmodell innovativer Gesellschaften ist. Gute Zukunft entsteht meist im Ringen um das bessere Argument.

Der besonnene Mensch weiß, dass bei wichtigen Fragen, diskutiert und gestritten werden muss. Es ist gut für die Qualität einer Demokratie, wenn besonnene Menschen miteinander streiten und so gemeinsam nach Wegen suchen, die das Gemeinwohl und die Entwicklungspotentiale im Auge behalten. Besonnenheit ist anstrengend, weil sie gelebt und kultiviert werden muss. Von nichts kommt nichts. Kultiviertheit zeigt sich stets im Umgang miteinander. Sie zeigt sich auch im Gebrauch der Worte (z. B.: von Chatnachrichten) und in der Fähigkeit, die Spannung von nötiger Transparenz und geschuldeter Diskretion auszuhalten.

Es gibt überzeugende Gründe zur Annahme, dass Besonnenheit besonders gut gedeihen kann, wenn Menschen, die eine Krise zu bewältigen haben, Pausen machen und Stille zum vertieften Nachdenken suchen. Sie unterbrechen damit das hektische Agieren und Reagieren. Vielleicht sollten wir uns in Gesellschaft und Politik mehr an Stille erlauben, um den Kopf freizumachen für neue hilfreiche Ideen im Umgang mit einer Krise. Spirituelle Menschen wissen um dieses Potenzial der Stille. Besonnene Menschen sind nicht selten auch spirituelle Menschen. Warum suchen Entscheider nicht öfter abgelegene Berghütten oder auch Klöster auf?

Wie gehen wir jetzt miteinander um? Besonnen? Besinnungslos? Das ist eine wichtige Frage für jeden Einzelnen und die Gesellschaft. Es gibt nämlich ein Leben nach der Krise. Werden wir uns dann vielleicht schämen?  Besonnenheit ist immer möglich – wir dürfen sie wollen. Wir sollten sie wollen. Auch beim da und dort schamvollen Aufarbeiten der überstandenen Krise.

Christian Lagger, Studien der Theologie, Philosophie und Business Administration. 2001 bis 2009 Bischöflicher Sekretär von Bischof Egon Kapellari, seit 2010 Geschäftsführer bei den Elisabethinen, seit 2016 Sprecher der Elisabethinen Österreich. Lehrender an der FH Joanneum und an der Universität Graz, Unternehmens- und Führungskräfteberater.