Pro von Markus Zottler, Wirtschafts- und Technik-Redakteur

Der Gast trat auf leisen Sohlen in unser Leben. Und hilft heute, Staus zu umfahren, den Online-Einkauf mit persönlichen Empfehlungen vorzubereiten oder die Temperatur im Haus konstant zu halten. Aber erst der Chatbot ChatGPT, Meister der plausiblen Antwort auf allerlei Fragen, brachte Künstliche Intelligenz in den vergangenen Wochen auf das Tapet der Massen. Umso schneller und emotionaler dreht sich seitdem die Debatte um Chancen und Gefahren der Technologie. Gut so.

Wagen wir am Beginn dieser Einschätzung den kurzfristigen Ausblick. Schon dieser lässt nämlich tief blicken. Bereits im Frühjahr wird der Nachfolger von ChatGPT, GPT-4, bisher bekanntes noch einmal in den Schatten stellen. Microsoft wiederum kündigte an, ChatGPT und Dall-E, ein Programm, das aus Text Bilder erzeugt, in seine "Cloud" zu integrieren. Viele Unternehmen bekommen dadurch ab sofort Zugriff auf die Künstlichen Intelligenzen. Und werden sie fortan für eigene Zwecke nutzen. Nicht zuletzt will Microsoft selbst prominente Anwendungen à la PowerPoint, Outlook oder das Office-Paket mit KI bestücken.

All das ist freilich nur ein klitzekleiner Ausschnitt der großen technologischen Transformation, die seit geraumer Zeit stattfindet. Schon der Schnipsel aber führt unweigerlich zum Schluss, dass Künstliche Intelligenz gekommen ist, um zu bleiben. Schulen wiederum scheinen der denkbar ungeeignetste Ort, um diese Realität auszublenden. Information und Aufklärung zählen zu deren elementarsten Aufgaben. Avanciert die Technologie selbst zum Unterrichtsinhalt, wird man dem Anspruch am besten gerecht. Erste Schulen versuchen sich deswegen gestaltend. In Bayern läuft der Modellversuch KI@school, bei dem 15 Schulen binnen fünf Jahren pädagogische Konzepte entwickeln, in denen auf KI-Komponenten zurückgegriffen wird.

Wie die Resultate auch aussehen: ChatGPT & Co. werden den Schulalltag verändern, womöglich massiv. Das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrenden und Schülerinnen stellen sie jedenfalls auf eine neue Probe. Schon heute ist es unmöglich, bestimmt zu sagen, ob Schüler Hausaufgaben mit oder ohne KI lösen. Schulen sollten versuchen, die Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Lehrer und Schüler können gemeinsam Regeln und Grenzen definieren. Und herausfinden, wo sie die Technologie weiterbringt und wo sie hemmt, wo sie fehlleitet. So, dass Schüler lernen, kritisch und verantwortungsbewusst mit KI umzugehen.
Ein Fokus darf neuen Chancen gelten. Dem personalisierten Lernen etwa, das von KI erleichtert wird. Lehrenden kann sie in der Unterrichtsvorbereitung helfen. Stupide Verbote führen nur zu mehr Ungemach – und Schulen würden wohl einer mächtigen Technologie ohnmächtig hinterherhecheln.

Markus Zottler schreibt für das Wirtschaftsressort. Häufig über neue Technologien, Start-ups und den Arbeitsmarkt
Markus Zottler schreibt für das Wirtschaftsressort. Häufig über neue Technologien, Start-ups und den Arbeitsmarkt © Ballguide

Contra von Roman Vilgut, Wirtschafts- und Technik-Redakteur

Vielleicht sind es zehn Jahre, vielleicht auch fünfzig, aber erinnern Sie sich mal zurück an Ihr 15-jähriges Ich. Vollgepumpt mit Hormonen, im Widerstand gegen Eltern und Lehrer ist Rebellion als Lebenskonzept der Jugend, das Aufbäumen gegen die Werte der "Alten" gehört einfach zum Erwachsenwerden dazu. Wer geht in dieser Phase der Entwicklung schon gerne in der Schule oder empfindet Hausübungen und Lernen als Vergnügen? Fragen Sie sich selbst: Wie hätten Sie reagiert, wenn es ein Programm gegeben hätte, eine Künstliche Intelligenz (KI), die Englisch-Fragen beantwortet, die Übungstexte schreibt, mathematische Textaufgaben lösen kann und Referate zu jedem beliebigen Sachthema erfindet?

In vollster Offenheit muss der Autor dieser Zeilen eingestehen: Die KI hätte bei ihm wohl viel zu tun gehabt. J. W. Goethes "Die Leiden des jungen Werther" und Friedrich Dürrenmatts "Die Physiker" wären womöglich ebenso ungelesen in der Ecke des Kinderzimmers gelegen wie George Orwells "1984" oder Harper Lees "To Kill a Mockingbird". Kein Gedanke wäre für die Frage verschwendet worden, wie lange der Zug bei gewisser Geschwindigkeit für eine Strecke braucht. Keine Minute Lesezeit wäre aufgewendet worden, um einen klug klingenden Text über Grönland oder Darwins Evolutionstheorie zu Papier zu bringen und dann vorzutragen.

"Na und, kann man ja alles in Wikipedia nachlesen", werden die Fans der Künstlichen Intelligenz einwenden. Dem muss entschieden widersprochen werden. Denn abseits der Frage, ob Wikipedia eine gute Quelle ist, geht es gerade in den jungen Jahren darum, sich kritisch mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Junge Menschen sollen begreifen, dass ihre Welt sich stetig wandelt und sie Teil dieser Veränderung sind. Dazu braucht es Reflexionsfähigkeit, echtes Hirnschmalz, und keinen Blechtrottel.

Ist diese KI also Teufelszeug? Eine üble Ausgeburt des postfaktischen Zeitalters? Soll sie der Bannstrahl der Bildungspolitik treffen? Nein, denn das wäre eine fatale Überreaktion. Auch wenn Schülerinnen und Schüler kein Ersatzhirn, keine Denkhilfe brauchen, ist etwas sehr wohl nötig: das Nachdenken über die KI, das Verständnis der Vorteile, und Nachteile. Die Heranwachsenden sollen begreifen, was hinter den maschinellen Lern-Algorithmen steckt. Sie sollen erkennen, dass die Künstliche Intelligenz eben kein elektronischer Mastermind ist, sondern vielmehr ein digitaler Sklave. Und genauso wie man im Geschichtsunterricht von den Schrecken des Sklavenhandels lernen kann, ohne selbst Sklavenhändler zu sein, kann man im Fach "Digitale Grundbildung" von Künstlicher Intelligenz lernen, ohne sie selbst anzuwenden. Eben mit der eigenen, menschlichen Intelligenz.

Roman Vilgut ist Wirtschafts- und Technologiejournalist. Sein erster Kontakt mit dem Thema KI war der Film "2001: Odyssee im Weltraum"

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