Die Europäische Zentralbank (EZB) erhöht erstmals seit 2011 den Leitzins und reagiert mit einem kräftigen Schritt nach oben auf die ausufernde Inflation. Die Zinsen im Euroraum werden um 0,5 Prozent angehoben. Das betrifft nicht nur die Leitzinsen, sondern auch den Refinanzierungszinssatz und den Einlagenzinssatz. Damit endet auch die Ära der Negativzinsen im Euroraum.

Die Rekordinflation im Euroraum bewegte die EZB nun zu dem ungewöhnlich kräftigen Straffungsmanöver: Angefacht von immer teurerer Energie im Zuge des Ukraine-Kriegs stiegen die Verbraucherpreise zuletzt um 8,6 Prozent. Die EZB verfehlt damit ihr Inflationsziel sehr deutlich. Denn sie strebt zwei Prozent als optimalen Wert für die Wirtschaft an.

Die beiden Anleihekaufprogramme PEPP und APP sind ja bereits mit Juni ausgelaufen. Dennoch wird die EZB fällig werdende Anleihen bis 2024 weiterhin reinvestieren.

Trüber Konjunkturausblick

EZB-Präsidentin Lagarde sieht die Konjunktur im Euroraum eingetrübt. Die Wirtschaftsaktivität schwäche sich ab, sagte Lagarde am Donnerstag auf der Pressekonferenz nach der Zinssitzung. Der Ausblick auf das zweite Halbjahr und darüber hinaus sei eingetrübt. Doch werde zumindest der Tourismussektor die Konjunktur im dritten Quartal stützen.

EZB-Vize Luis des Guindos hatte Anfang Juli gewarnt, die hohen Energiekosten, sich verschlechternde Handelsbedingungen und die Einkommensbelastungen durch die hohe Inflation gefährdeten den mittelfristigen Wachstumsausblick. Die Stimmung der Verbraucher in der Eurozone hat sich im Juli weiter eingetrübt. Inzwischen ist sie schlechter als beim Ausbruch der Coronapandemie.

Jüngst hatte die EU-Kommission wegen des Ukraine-Kriegs ihre Wachstumsprognose für die EU gesenkt. Sie erwartet für dieses Jahr jetzt nur noch einen Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2,6 Prozent. Bisher wurden 2,7 Prozent prognostiziert. Bei einer akuten Gaskrise droht der Kommission zufolge in der zweiten Jahreshälfte eine Rezession.

Neues Instrument

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat sich auch einstimmig auf ein neues Werkzeug verständigt, um Staaten bei Turbulenzen an den Finanzmärkten unterstützen zu können. Wie EZB-Chefin Christine Lagarde am Donnerstag mitteilte, kann jedes Land der Eurozone im Prinzip in den Genuss des Programms kommen. Es sei für spezielle Situationen und Risiken geschaffen worden, die jeden Staat treffen könnten.

Die EZB wolle damit "ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken" entgegenwirken, die eine ernsthafte Bedrohung für die Wirkung der Geldpolitik im Euroraum darstellen.

Der EZB-Rat werde bei Bedarf darüber entscheiden, ob dieses Programm für ein Land aktiviert werde. Dabei würden die Währungshüter eine Reihe von Indikatoren als Kriterien heranziehen. Der EZB-Rat werde darüber in eigener Regie entscheiden, betonte Lagarde. Details zum Programm sollten in Kürze in einer Pressemitteilung veröffentlicht werden.

Die EZB will die Ankäufe nicht von vornherein beschränken. Das TPI soll die gleichmäßige Wirkung der Geldpolitik im Euroraum sicherstellen und dem EZB-Rat laut Lagarde dadurch eine effektivere Erfüllung seines Preisstabilitätsmandats ermöglichen.

Die Renditen der Staatsanleihen der Euroländer waren im Zuge der erwarteten Zinswende in den vergangenen Monaten gestiegen. Denn mit der Abkehr von der ultralockeren Geldpolitik blicken Investoren auch wieder verstärkt auf die unterschiedlichen Risiken ihrer Anleiheengagements.

Die Renditen stark verschuldeter Euroländer wie Italien legten in der Folge besonders stark zu. Zeitweise waren die Renditeabstände (Spreads) so stark gestiegen, dass Befürchtungen aufkamen, es könne womöglich eine neue Eurokrise heraufziehen. Denn mit dem Renditeanstieg erhöhen sich für die Länder die Finanzierungskosten. Die EZB hielt im Juni sogar eine Dringlichkeitssitzung ab.

Kritik an später Reaktion

Kritiker werfen der EZB vor, die Zinswende viel zu spät einzuleiten. Die Teuerung im Euroraum zieht seit Monaten auf Rekordniveau an. Zugleich haben sich die Wirtschaftsaussichten wegen des Kriegs in der Ukraine verschlechtert. Hebt die EZB die Zinsen in diesem Umfeld zu rasch an, könnte das vor allem für hoch verschuldete Staaten in Südeuropa zur Belastung werden.

Um sicherzustellen, dass Zinserhöhungen Länder wie zum Beispiel Italien nicht über Gebühr belasten und um eine Fragmentierung des Währungsraums zu verhindern, legt die EZB ein neues Antikrisenprogramm auf, das sogenannte Transmission Protection Instrument (TPI).

"Das TPI wird das Instrumentarium des EZB-Rats ergänzen und kann aktiviert werden, um ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken entgegenzuwirken, die eine ernsthafte Bedrohung für die Transmission der Geldpolitik im Euroraum darstellen", erklärte die Notenbank. "Der Umfang von Ankäufen im Rahmen des TPI hängt von der Schwere der Risiken für die geldpolitische Transmission ab. Die Ankäufe sind nicht von vornherein beschränkt."

Die Arbeiten an diesem neuen Antikriseninstrument hatte die EZB nach Unruhen an den Finanzmärkten Mitte Juni forciert. Der Renditeabstand – der Spread – zwischen Staatsanleihen aus Deutschland und denen höher verschuldeter Euroländer, insbesondere Italiens, hatte sich nach der EZB-Ankündigung einer ersten Zinserhöhung im Sommer ausgeweitet. Heißt: Für Länder wie Italien wird es teurer, sich frisches Geld zu besorgen. Das könnte für solche Staaten angesichts schon gewaltiger Schuldenberge zum Problem werden.

Hohe Inflation

Doch die hartnäckig hohe Inflation zwingt die EZB zum Handeln. Der Prozess der Normalisierung der Geldpolitik werde "entschlossen und nachhaltig fortgesetzt werden", hatte EZB-Präsidentin Christine Lagarde Ende Juni gesagt. Andere Notenbanken wie die US-Fed und die Bank of England haben ihre Zinssätze bereits mehrfach angehoben.

Im Juni lagen die Verbraucherpreise im Euroraum um 8,6 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats. Die EU-Kommission rechnet für das Gesamtjahr 2022 mit durchschnittlich 7,6 Prozent Inflation im Währungsraum der 19 Länder. Das wäre ein historischer Höchstwert und weit über dem von der EZB angestrebten stabilen Preisniveau mit einer jährlichen Teuerungsrate von zwei Prozent. Eine höhere Inflation schmälert die Kaufkraft von Verbraucherinnen und Verbrauchern, weil sie sich dann für einen Euro weniger leisten können.

Treiber der Inflation sind seit Monaten deutlich gestiegene Energie- und Lebensmittelpreise. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Lage verschärft.