Wenn, wie Ende der Vorwoche, an einem Tag, binnen vier Minuten, die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 2008 und gleichzeitig auch die höchste Inflationsrate seit 1981 kommuniziert werden – was lösen so außergewöhnliche Statistiken im Ökonomen in Ihnen aus?
MARTIN KOCHER: Man muss solche Dinge immer in der längeren Frist vergleichen. Die Inflation ist im Moment sehr hoch, vor allem aufgrund der Steigerung der Energiepreise. Andererseits ist das hoffentlich ein temporärer Effekt. Ich erwarte, dass sie in den nächsten Monaten noch hoch ist. Die meisten Wirtschaftsforscher gehen aber davon, dass, wenn sich die Lage in der Ukraine hoffentlich beruhigt, die Inflation doch wieder zurückgeht.

Aber die Inflation bleibt ein dominierendes Thema?
Wir haben jedenfalls gelernt, dass Inflation, die viele eigentlich schon für aus der Welt geschafft gehalten haben, doch möglich ist – und vor allem auch, welche negativen Effekte sie hat. Zuvor hat es immer wieder Stimmen gegeben, die gemeint haben, ein wenig mehr Inflation, ist ja alles nicht so schlimm. Jetzt sehen wir, wie die Inflation zu Verwerfungen, zu sozialen Problemen führt und unterschiedliche Gruppen auch sehr unterschiedlich betrifft, sowohl Haushalte als auch Unternehmen.

Für den Arbeitsmarkt sind Sie trotz der gegenwärtigen Verunsicherungen zuversichtlich?
Die Arbeitsmarktdaten könnten sich leicht eintrüben, durch die Unsicherheit, die es seit dem Kriegsausbruch gibt. Der Ausblick ist etwas unsicherer geworden. Aber trotzdem sollten sie strukturell gut bleiben, aufgrund der in Summe noch immer guten wirtschaftlichen Lage, auch aufgrund der Maßnahmen, die wir gesetzt haben.

Gibt es Branchen, die Ihnen Sorgen bereiten? Es gibt beispielsweise Industrieunternehmen, die auf vollen Auftragsbüchern sitzen, aber aufgrund von Teile- und Materialmangel trotzdem Kurzarbeit anmelden müssen.
Der Teilemangel ist sicher ein großes Problem. Insofern, als es mittlerweile ja gleich mehrere Ursachen dafür gibt. Neben dem Krieg und den Folgen gibt es auch in China, derzeit etwa in Shanghai, Lockdowns aufgrund der Corona-Lage, das wirkt sich auf die Häfen und damit die Lieferketten aus. Aber letztlich sollten das temporäre Angelegenheiten sein, wenn sich – und das ist der entscheidende Punkt – die kriegerischen Handlungen in der Ukraine beenden lassen.

Die Sozialpartner haben in Ihrem Forderungspaket als einen der neun Punkte auch eine Verlängerung der Kurzarbeit bis mindestens Jahresende angeführt. Könnte da notwendig werden?
Wir haben die allgemeine Kurzarbeit, die bis Ende Juni läuft. Sie reicht aus meiner Sicht für die jetzigen Schwierigkeiten aus.

Könnte sich das ändern?
Wir haben mit den Sozialpartnern vereinbart, in den nächsten Wochen auch über die Kurzarbeit zu sprechen. Ich habe schon klargestellt, dass sie jedenfalls auch nach Ende Juni weitergeführt wird, es geht nur um die Voraussetzungen und Bedingungen dafür und ob es eine spezifische Kurzarbeit bräuchte, wenn sich die Situation in Österreich massiv verschlechtern würde, wovon ich derzeit aber nicht ausgehe.

Bei dieser hohen Teuerung werden auch Stimmen laut, die entsprechende Erhöhungen des Arbeitslosengelds fordern. Zurecht?
Wir sind gut beraten, strukturelle, langfristige Effekte von kurzfristigen zu unterscheiden. Kurzfristig ist klar: Niedrigverdiener, Arbeitslosen- und Notstandshilfebezieher sind durch den Teuerungsanstieg stark belastet, weil sie, gerade auch bei Energiepreisen, nicht ausweichen können. Deshalb gab und gibt es aber auch die Einmalzahlungen und Entlastungspakete der Regierung, die besonders Haushalte mit niedrigen Einkommen unterstützen. Die sollen diesen akuten Preisanstieg etwas abfedern, das macht aus meiner Sicht auch Sinn.

Und eine generelle Erhöhung des Arbeitslosengelds?
Das wäre eine langfristige Maßnahme, wichtiger ist es, sich über die Struktur im Gesamten Gedanken zu machen – und genau das tun wir gerade mit der Reform der Arbeitslosenversicherung, die wir hoffentlich im zweiten Quartal präsentieren können.

Ein Fokus liegt derzeit auch auf der Integration von ukrainischen Kriegsflüchtlingen. Es gibt da aber auch bürokratische Nebenerscheinungen. Wie bewerten Sie die?
Ich kann nicht für den gesamten Bereich sprechen, verantwortlich bin ich für den Arbeitsmarkt – da weiß ich, dass das AMS sehr gut vorbereitet ist. Es ist gut, dass wir den Weg über eine sehr formlose Beschäftigungsbewilligung gewählt haben. Das gibt Unternehmen Sicherheit und soll Lohn- und Sozialdumping möglichst vermeiden. Aber natürlich braucht das alles etwas Zeit, es ist auch sinnvoll, Schritt für Schritt vorzugehen. Zuerst geht es für diese Menschen einmal um Sicherheit, Grund- und Gesundheitsversorgung sowie die Kinderbetreuung und Schulintegration. Und dann geht es um den Arbeitsmarkt.

Was hören Sie diesbezüglich von den Unternehmen?
Es gibt schon sehr viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die gerne ukrainische Vertriebene anstellen wollen, hier wird es eine Reihe von Initiativen geben.

Der Start der Frühjahrs-Lohnrunden mit Forderungen von plus sechs Prozent zeigt, dass die KV-Verhandlungen heuer nicht einfach werden. Fürchten Sie eine Lohn-Preis-Spirale als reale Gefahr?
Dass die Lohnforderungen höher ausfallen, wenn die Inflation so hoch ist, ist klar. Die Frage ist aber, wie viel mehr ist es und wie viel mehr ist auch gesamtwirtschaftlich verkraftbar. Und vor allem, wie sind die Erwartungen der Preisentwicklungen im nächsten Jahr. Das wird nicht einfach. Es wird vor allem wichtig sein, im Herbst bei der Lohnrunde sehr verantwortungsvoll damit umzugehen – auf allen Seiten. Die Regierung, die Maßnahmen gegen die Teuerung setzt und die Sozialpartner, die sowohl auf den Kaufkrafterhalt schauen müssen als auch auf die gesamtwirtschaftliche Lage – um eine langfristige Lohn-Preis-Spirale zu verhindern.

Es gibt Berechnungen, die zeigen, dass von einer sechsprozentigen Lohnerhöhung einem durchschnittlichen vollzeitbeschäftigten Arbeiter 92 Euro netto mehr pro Monat bleiben, die Steuer- und Abgabenlast aber gleichzeitig um knapp 124 Euro monatlich steigt. Ist es nicht Zeit für eine Abschaffung der kalten Progression?
Das ist eine strukturelle Frage. Ich war immer etwas skeptisch, ob eine automatische Angleichung der Lohn- und Einkommenssteuer-Klassen die optimale Lösung ist. Es stimmt, dass wir in gewissen Bereichen, unsere Systeme noch wertsichernder gestalten könnten. Man muss sich aber bewusst sein: Wenn man das vollständig macht, werden zukünftige Steuerstrukturreformen einfach schwieriger. Weil damit klar ist, dass jede Steuerreduktion auf der einen Seite, auf der anderen Seite durch Steuererhöhungen oder Einsparungen direkt gegenfinanziert werden muss. Das heißt, psychologisch de facto auch, dass man die bestehende Steuerstruktur einzementieren. Wir haben aber in den letzten 20, 30 Jahren oft Notwendigkeiten gehabt, Strukturen anzupassen, wie jetzt beispielsweise bei der ökosozialen Steuerreform.