Die Europäische Zentralbank (EZB) erwartet durch den Ukraine-Konflikt laut Insidern einen Konjunkturdämpfer für den Euroraum. Beim informellen Treffen der EZB-Spitze in Paris habe Chefvolkswirt Philip Lane Szenarien dazu vorgelegt, sagten mehrere mit der Sache vertraute Personen der Nachrichtenagentur Reuters am Freitag. Ein mittleres Szenario sage voraus, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Eurozone heuer um 0,3 bis 0,4 Prozent geschmälert werde.

Ein extremeres Modell sehe sogar fast ein Prozent vor. Ein weiteres von Lane präsentiertes Szenario unterstelle praktisch keine Folgen, was aber mittlerweile als unwahrscheinlich eingeschätzt werde. Einer der Insider bezeichnete die Schätzungen als Überschlagsrechnungen. Eine andere kontaktierte Person sagte, sie seien "sehr vorläufig". Beim Zinstreffen im März werde der Chefökonom verfeinerte Modelle vorlegen, hieß es unisono.

Zinssitzung abwarten

Der Ire habe zwar noch keine neuen Inflationsprognosen präsentiert. Doch habe er bereits signalisiert, dass die Vorhersage für 2022 deutlich angehoben werde. Zugleich werde die Teuerungsrate zum Ende des mittleren Projektionszeitraums – also wohl bis 2024 – noch immer unter dem Ziel der EZB von 2,0 Prozent veranschlagt. Bis jetzt erwarten Notenbank-Volkswirte für die Jahre 2023 und 2024 jeweils eine Rate von 1,8 Prozent – für das laufende Jahr wurden 3,2 Prozent veranschlagt.

Die EZB wollte sich zu dem Insider-Bericht nicht äußern. Sie hatte am Vortag mitgeteilt, dass sie bei der Zinssitzung am 10. März eine umfassende Bewertung des Konjunkturausblicks vornehmen werde: "Dies beinhaltet die Entwicklungen auf geopolitischem Gebiet." Laut Lane haben die geopolitischen Spannungen nicht nur Auswirkungen auf die Öl- und Gaspreise, sondern auch auf das Vertrauen der Anleger und Verbraucher sowie den Handel. EZB-Direktorin Isabel Schnabel sprach von einem "Kriegsschock", der den globalen Ausblick verdüstere.

Rekord-Inflation

Die EZB ist mit einer Rekord-Inflationsrate von 5,1 Prozent konfrontiert. Die stark gestiegenen Preise für Energie sorgen für Auftrieb, der sich im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine noch verstärkt hat – insbesondere bei Öl und Gas.

Die EZB fährt trotz dieser Entwicklung noch immer einen relativ lockeren Kurs, auch wenn die Anleihen-Zukäufe über das Pandemie-Notprogramm PEPP im Frühjahr enden. Die EZB hat im Dezember jedoch beschlossen, das kleinere APP in veränderter Form weiterzuführen. Dessen Ende blieb offen. Dieses gilt allerdings als eine Voraussetzung für eine Zinserhöhung, die kurz nach Ende des Programms kommen soll. Die EZB hält den geldpolitischen Schlüsselsatz bei 0,0 Prozent. Und Banken müssen Strafzinsen zahlen, wenn sie überschüssige Gelder bei der EZB parken: Der Einlagesatz liegt bei minus 0,5 Prozent.

Gemeinsame Gasspeicher

Der ehemalige EZB-Chef und heutige Ministerpräsident Italiens, Mario Draghi, fordert als Konsequenz aus der aktuellen Ukraine-Krise länderübergreifende Speicher für Erdgas in der Europäischen Union. Das sagte der Regierungschef am Freitag in einer Erklärung im Parlament in Rom. Sein Land werde in Brüssel darauf drängen, bessere Mechanismen für gemeinsame Speicher auf den Weg zu bringen, um für künftige Notlagen besser gerüstet zu sein. "Wir hoffen, dass diese Krise endlich zu einer positiven Antwort in dieser Thematik führt", sagte Draghi.