Wir alle erleben gerade, was es bedeutet, wenn in einer globalisierten Welt einzelne Produktions- und Lieferketten zusammenbrechen – sei es aufgrund einer lokal begrenzten Krise oder, wie im aktuellen Fall, durch eine Pandemie. Die Coronakrise führt uns deutlich und schmerzhaft unsere Abhängigkeit von aufstrebenden Industrieproduzenten wie China und Indien vor Augen – nicht nur, aber vor allem im Bereich der Medikamente und Medizinprodukte (Masken). Zurzeit stellen Indien und China mehr als 80 Prozent aller Wirkstoffe her. Zuletzt hatte Indien eine partielle Ausfuhrbeschränkung für 25 Wirkstoffe verhängt, darunter auch wichtige antivirale und antibakterielle Komponenten.

Völlige Autarkie ist in einer globalisierten Welt natürlich weder möglich noch erstrebenswert. Allerdings zeigt die aktuelle Situation die absolute Notwendigkeit für Österreich und Europa, weitaus mehr Unabhängigkeit zu schaffen und die Produktion von Wirkstoffen wieder nach Europa zu verlegen, um im Fall einer (neuerlichen?) Krise schnell, effizient und vor allem autonom reagieren zu können und damit möglicherweise Menschenleben zu retten. Wir haben in der Steiermark die einmalige Chance, hier eine Vorreiterrolle für Österreich und Europa zu übernehmen.

Neuer Produktionsstandort

Das Research Center for Pharmaceutical Engineering (RCPE) als führendes Forschungsunternehmen für Prozess- und Produktentwicklung im pharmazeutischen Bereich (TU Graz, Uni Graz und Joanneum Research, unterstützt von Bund und Land) plant einen neuen Produktionsstandort für oral verfügbare Wirkstoffe (Tabletten oder Kapseln), der es erlaubt, Notfallmedikamente, z. B. gegen Sars-CoV-2, innerhalb weniger Tage und nach hohen Qualitätskriterien herzustellen, sobald ein geeigneter Wirkstoff in internationalen Studien identifiziert wurde.

Zurzeit gelten mehr als 20 schon einmal zugelassene bzw. bekannte Wirkstoffe als vielversprechend, was bedeutet, dass in Zellkulturstudien bei therapeutischen Dosen eine effektive Hemmung des Sars-CoV-2 Virus gezeigt wurde, der Covid-19 auslöste. Der Vorteil von schon zugelassenen oder in Entwicklung befindlichen Wirkstoffen ist, dass das Sicherheitsprofil (Stichwort Nebenwirkungen) schon bekannt ist. Bei neuen Wirkstoffen ist das nicht der Fall und daher oft der Grund für das Scheitern einer Medikamentenentwicklung, da inakzeptable Nebenwirkungen auftreten, wie zum Beispiel ein zu starker Einfluss auf die Reizleitung zum Herzen. Daher setzt man jetzt auf bekannte Wirkstoffe, was auch „Drug Repurposing“ genannt wird.

Neue Produktionsverfahren

Der große Vorteil der Grazer RCPE-High-Speed-Anlage besteht darin, dass das Material ohne Unterbrechung unter gleichbleibenden Bedingungen und in gleichbleibender Qualität, überwacht mit modernster Sensorik, durch die Anlage fließt („Continuous Manufacturing“). In der herkömmlichen Produktion hingegen wird wie in einer übergroßen Apotheke in Chargen gemischt und produziert, das heißt, nach jedem Schritt wird die Anlage abgestellt und das Zwischenprodukt getestet. Die herkömmliche Pharmaproduktion (inklusive Wirkstoff) dauert so in der Regel zwischen sechs Monate und ein ganzes Jahr und ist sehr kostenintensiv. Durch neue Produktionsverfahren, wie dem vom RCPE entwickelten, können die Kosten niedrig gehalten werden, da zum einen Qualitätsschwankungen (und damit Ausschuss) vermieden werden und zum anderen die Anlagen im Vergleich zur klassischen Pharmaproduktion wesentlich kleiner und damit billiger sind. Das gilt auch für die Lagerhaltung. Somit werden die Produktionskosten weit genug gesenkt, um im Vergleich zu Niedriglohnländern wie China und Indien konkurrenzfähig zu bleiben und die finanzielle Belastung der Endverbraucher in einem vertretbaren Rahmen zu halten. Das macht für die Zeit nach Corona die Türen auf: Die Gespräche zur Finanzierung der geplanten Anlage mit Bund, Land und auf EU-Ebene zeigen jedenfalls das große Interesse der Regierungen an einer solchen Anlage.

Es bleibt nun zu hoffen, dass bald ein potenter Wirkstoff gegen Sars-CoV-2 gefunden wird. Generell sind zurzeit weltweit viele Substanzen in der frühklinischen Phase und es gilt abzuwarten, welcher Wirkstoff aktiv ist, aber auch ein tolerierbares Sicherheitsprofil aufweist. Aus der Vergangenheit ist bekannt, dass die Wirkstoffentwicklung hochriskant ist und man nicht abschätzen kann, ob eine hoffnungsvolle Entwicklung am Ende auch erfolgreich ist. Wir beobachten daher die gesamte internationale Szene, hoffen aber natürlich, dass ein „österreichischer Wirkstoff“ Erfolg hat, wie zum Beispiel der Wirkstoff von Josef Penninger. Das würde, gemeinsam mit unseren innovativen Produktionsmethoden, den Life-Science-Standort Österreich noch weiter bekannt machen. Aber auch für den Fall, dass kein „österreichischer“ Wirkstoff das Rennen macht – ein Produktionsstandort für die schnelle Produktion von Medikamenten unter höchsten Qualitätsstandards in der Steiermark ist in jedem Fall eine wichtige und richtige Investition in die Zukunft. Denn nicht zuletzt kann das auch den Leuchtturmcharakter der Steiermark in Europa weiter unterstreichen.

Johannes Khinast und Thomas Klein
Johannes Khinast und Thomas Klein © (c) oliver wolf

Eine Kooperation mit dem Verein Denkwerk Steiermark.