Wie lernt der Mensch im digitalen Zeitalter? Ganz anders als bisher?
OLIVER VITOUCH: Manches am Lernen verändert sich im digitalen Zeitalter, manches gar nicht. Anders ist, dass enzyklopädisches Wissen ungleich leichter verfügbar ist – Stichwort Wikipedia. Und für verknüpfte Suche brauche ich lediglich eine gute Suchmaschine.

Man muss sich also nicht mehr verschulden, um ein 24-bändiges Lexikon anzuschaffen, bei dem die Buchstaben M bis Z noch nicht geliefert wurden.  Gleich bleibt, dass Lernen auch eine emotionale und soziale Angelegenheit ist. Für viele Formen des Lernens benötige ich den passenden Rahmen. Der hat bis auf Weiteres mit Menschen zu tun.
Relevant wird künftig, wie gut wir gelernt haben, mit dem „Weltwissen per Mausklick“ umzugehen. Die Einschätzung, ob ein Wikipedia-Artikel gut oder schlecht ist, braucht eine Menge Kontextwissen und Metawissen, also „Wissen über Wissen“. Der flüssige, prüfende Umgang mit Wissen, die Fähigkeit, sich ein solides eigenes Urteil zu bilden: Das ist Lernen im digitalen Zeitalter.

Macht uns die Digitalisierung mit all ihren Ausprägungen – Stichwort digitale Medien – dümmer, wie so mancher befürchtet?
Angeblich dümmer hat uns in der Geschichte der Medien schon so manches gemacht: Comics, das Fernsehen, das Internet, Videospiele. Sogar Bücher galten zeitweise als gefährlich. Es hängt immer davon ab, wie man individuell mit Medien umgeht. Richtig ist, dass „Fake News“ und „alternative Fakten“ viel präsenter sind als früher: Das kann tatsächlich zu gewissen Verdummungseffekten führen, etwa zum Anstieg von Verschwörungstheorien. Wenn wir etwas „schwarz auf weiß“ lesen, sind wir verleitet, es zu glauben.

Ist die Bildung, die wir heute noch jungen Menschen angedeihen lassen, nicht viel zu sehr analogen, überholten Traditionen verpflichtet?
Vielleicht sind manche Schulfächer weniger relevant als früher. Aber guter Unterricht arbeitet ohnehin explorativ. Was die Universitäten anbelangt: Das Humboldt’sche Bildungsideal fordert, dass man eigenständig lernt, einer Sache ganz auf den Grund zu gehen. Dabei geht es oft weniger um Inhalte als um die Haltung und Methodik der Gründlichkeit. Das ist im besten Sinne immergrün.

Wird das rein digitale Studium an möglicherweise virtuellen Universitäten klassische Hochschulen ablösen oder zumindest in relevantem Maße ergänzen?
Möglicherweise wird es zum Luxus werden, sich für ein paar Jahre auf einen Universitätscampus zurückzuziehen. Rein digitales Studium wird die billigere Variante werden. Aber wie gesagt, zum Lernen brauche ich auch die richtigen Rahmenbedingungen. Ich muss auch die Motivation aufbringen, den stets verfügbaren Online-Kurs wirklich zu absolvieren. Die analoge Interaktion mit anderen Studierenden und mit Wissenschaftlern ist schwer zu ersetzen. Also Ergänzung ja, Ablöse nein.

Wie sehr werden sich Forschung und Lehre – sprich das Kerngeschäft von Universitäten – in Zukunft verändern?
Dass an einer Universität auch Forschung auf höchstem Niveau stattfindet, ist ihr Wesensmerkmal. In den USA spricht man daher von „research universities“, um sie von anderen Einrichtungen zu unterscheiden. An der Universität Klagenfurt haben wir jüngst das Digital Age Research Center, kurz D!ARC, eingerichtet. Wir forschen also zunehmend interdisziplinär zu den technologischen, aber auch zu den ökonomischen, rechtlichen, gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Aspekten der digitalen Revolution. Ganz enorm haben sich etwa Art und Umfang vorhandener Daten verändert: Wer wird über diese Daten verfügen? In der Lehre wird der persönliche Kontakt zwischen Wissenschaftlern und Studierenden bedeutsamer werden. Wir nennen es „Tutoring & Mentoring“. Lehre wird persönlicher werden, so wie sie das in den USA und im Vereinigten Königreich immer schon war.

Alle reden von lebenslangem Lernen – aber wie soll das organisiert werden? Zwei Pflichtschuljahre mit 45? Zweitstudien mit 50?
Universitätslehrgänge (ULG) sind in Österreich fast immer berufsbegleitend organisiert. Künftig werden auch Mikrozertifikate eine größere Rolle spielen: Weiterbildungsmodule, die in kleinen Portionen absolviert werden können. Je mehr Kompetenzen ich bereits habe, desto eher kann ich neue auch rein digital erwerben. Es gibt aber auch skandinavische Modelle, etwa in Dänemark und Schweden, die ein Studium mit 45 oder 50 gut ermöglichen, mit Grundsicherung für diesen Zeitraum.

Faktum ist: Die Österreicher investieren kaum in Weiterbildung. Nur 15 Prozent lernen in Onlinekursen, weltweit aber schon jeder Dritte. Sind wir zu faul?
Nein, eher in jungen Jahren bereits gut gebildet. Mit guter Schul- und Hochschulbildung erwerbe ich ja die Kompetenz, mich später auch eigenständig weiterzubilden, zum Beispiel durch Fachliteratur. Da benötige ich nicht immer formale Weiterbildungsangebote dafür. Bisweilen ist Weiterbildung ja leider auch primär ein Geschäftsmodell.

Einige bejubeln die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz, Robotik & Co., andere fürchten sich zu Tode – wo reihen Sie sich ein?
Im August sah ich in London ein Werbeplakat für eine elektrische Zahnbürste: „die erste Zahnbürste mit eingebauter künstlicher Intelligenz“. Seither fürchte ich mich, à la Terminator, vor der Übernahme der Weltherrschaft durch ein Netzwerk von Zahnbürsten. Aber im Ernst: Die verheißenen Entwicklungen werden langsamer vonstattengehen als suggeriert. Die Arbeitswelt jedoch wird sich sukzessive verändern, und Bildung und Qualifikation werden mehr denn je der Schlüssel sein, sich darin zu behaupten. Letztlich ist es eine Frage der Verteilung von Wohlstand: KI und Robotik werden den Alltag unserer Nachkommen ungleich leichter machen. Aber wer wird von diesen Erleichterungen profitieren? Roboter kaufen keine Güter. Es wird also auch in Zukunft zahlungskräftige Konsumenten brauchen.