Herr Lotter, viele blicken skeptisch in die Zukunft, sind unsicher. Warum haben so viele Menschen Angst vor der Zukunft?
WOLF LOTTER: Das ist eigentlich unerklärlich – denn die Möglichkeiten der Menschen sind heute in rein materieller Hinsicht weit größer als die ihrer Großeltern. Materieller Wohlstand ist eine Verpflichtung, den Fortschritt nicht aufzugeben – sondern die Welt weiter zum Besseren zu verändern. Wir erleben aber, dass die nachwachsende Generation oft nicht innovativ ist, sondern lieber so leben will wie ihre Eltern – aber Revolution mit Festanstellung gibt es nicht.

Eine der großen Veränderungen unserer Zeit ist all das, was man unter dem Stichwort Digitalisierung kennt. Was ist bei der Digitalisierung für Sie Bedrohung, was eine Chance?
Digitalisierung ist eine weitere, wesentliche Stufe der Automatisierung. Diese ist eine der tollsten Ideen der Menschheit. Die Maschine ist unser Werkzeug, sie tut, was wir ihr sagen. An der Tatsache, dass so viele die Übertreibungen der künstlichen Intelligenz widerspruchsfrei ertragen – Roboter übernehmen die Macht –, zeigt nur, wie schlecht die Allgemeinbildung in Sachen Technik ist. Unbildung schafft schlichte Gemüter, und die haben vor allem Angst.

Wolf Lotter
Wolf Lotter © Kleine Zeitung

Sie sehen also eher Chancen und keine Bedrohung?
Ich sehe viele Chancen! Automatisierung kann uns von den Resten monotoner Arbeit befreien, damit Zeit dafür bleibt, dass wir richtig kreative, vernünftige, menschenwürdige Arbeit machen. Wenn die Wirtschaft sich immer mehr diversifiziert, wenn Dienstleistungen immer individueller und maßgeschneiderter werden, brauchen wir geistige Kapazitäten und natürliche Intelligenz unterschiedlicher Ausprägung, nicht nur akademische Intelligenz.

Es gibt jetzt aber sehr viele Stimmen, die sagen, durch die Digitalisierung werden wir über kurz oder lang keine Arbeit mehr haben. Stimmen Sie in diesen Tenor mit ein?
Ja und nein. Wir werden keine Erwerbsarbeit mehr haben, wie wir sie aus der Industriegesellschaft kennen. Es wird nicht nur Hilfsarbeiter treffen, die den immer gleichen Handgriff machen, etwa Ärzte, die Blutdruck oder Blutzucker messen. Einen Arzt brauche ich, um individuelle Entscheidungen auf der Grundlage der Daten von Automaten zu treffen. Das ist der Job. Da müssen viele umdenken, vor allen Dingen mental und kulturell. Arbeit werden wir mehr als genug haben. Aber sie wird uns mehr fordern, weil sie persönlicher wird, aber damit auch viel befriedigender.

Die Menschen müssen sich also auf Veränderungen einstellen. Ist unser Bildungssystem auf diese Veränderungen vorbereitet?
Nein, ich fürchte nicht. Die Jungen lernen heute das, was die Alten gelernt haben. Das System ist, auch durch den Bologna-Prozess, verschult und normiert. Wir ziehen Generationen mechanistisch denkender Menschen heran, die viel weniger Chancen haben werden als die alte Generation. Diese hatte mehr Freiräume und eine vielfältigere Ausbildung als heute. Das wird uns nicht guttun.

Wird es keinen Übergang von der alten in die neue Arbeitswelt geben?
Natürlich, darin leben wir ja schon. Es wird Grundsicherungsmodelle brauchen, über die wir jetzt nachdenken müssen, und zwar intensiv über mehrere Varianten. Damit es keine sozialen Verwerfungen gibt, denn es werden Menschen in diesem Transformationsprozess ihre Arbeit verlieren.

Wie soll denn dieses Grundeinkommen bezahlt werden?
Wir geben in den westlichen Ländern ja nicht wenig aus für Soziales, wir streuen es nur ziemlich planlos in der Gegend herum. Da kann ich einerseits mit dem Geld sparsamer umgehen. Andererseits müssen wir Arbeit weniger besteuern und über Verbrauchssteuern reden oder natürlich über eine moderate Form einer Digitalsteuer.

Sind wir bereit für diesen Umbruch? Viele denken ja heute, der Staat sorgt für alles, man muss nichts tun.
Das ist ein Problem der Unmündigkeit. Der Bürger ist der Vormund des Staates, nicht umgekehrt. Zu viel Kümmern erzeugt hingegen Verkümmerte – wir brauchen aber selbstbewusste Zivilgesellschafter fürs 21. Jahrhundert, die selber denken und entscheiden. Bürger sind keine Konsumenten ihres eigenen Lebens. Dafür ist jeder selbst mit verantwortlich. Wenn wir die Selbstbestimmung nicht fordern und fördern, wird uns die Dummheit Demokratie und Wohlstand ruinieren.

Wer entscheidet, was Dummheit ist?
Der Dumme, der Idiot tut das selbst. Dumm zu sein, ist seine eigene Entscheidung. Ein Idiot ist jemand, der glaubt, dass sich die Sachen auch ohne ihn machen lassen, der den Zusammenhang zwischen sich selbst und dem Großen und Ganzen nicht verstanden hat und auch nicht verstehen will. Man muss aber verstehen und wissen wollen, wie die Welt beschaffen ist, in der man lebt – jedenfalls grundlegend. Das ist die Aufgabe von heute: einen Zusammenhang denken wollen und können.

Wenn uns das alles zumindest halbwegs gelingt, dann brauchen wir keine Angst vor der Zukunft zu haben?
Absolut nicht. Ich bin sogar sehr optimistisch. Die Menschen erkennen, dass die oben beschriebene Dummheit zu nichts Gutem führt und dass die Folgen, der allgegenwärtige Extremismus und die politische Polarisierung, die Welt nur schlechter machen. Alarmismus führt zu nichts. Die Vernunft setzt sich durch.