Frau Helms, Sie sind Meeresexpertin von Greenpeace - was sagen Sie zur nun unterzeichneten Kooperation zwischen Gazprom und Shell: der Anfang vom Ende für das sensible Ökosystem der Arktis?

ANTJE HELMS: Leider zeigt das, wie bedroht die Arktis ist – von Konzernen, die nichts dazu gelernt haben, wie diese Kooperationen beweisen. Beide haben im vergangenen Jahr gezeigt, dass sie nicht in der Lage sind, die technischen Voraussetzungen zu erfüllen, um einigermaßen sicher in der Arktis Öl zu fördern - man denke nur an die Pannenserie bei Shell. Jetzt schließen diese beiden Konzerne auch noch eine Kooperation. Kein gutes Zeichen für die Zukunft der Arktis. Allerdings ist noch nicht alles verloren, deshalb arbeiten wir auch weltweit zu diesem Thema – je intensiver die Öffentlichkeit hinschaut, desto mehr sich dagegen aussprechen, desto größer wird der Druck auf die Ölkonzerne. Fast drei Millionen Menschen haben weltweit für den Schutz der Arktis und gegen eine Industrialisierung des Nordpols unterschrieben. Nach einer Aktion, bei der Greenpeace-Aktivisten als Eisbären verkleidet eine Ölplattform des norwegischen Energieriesen erklettert haben, haben Statoil und später auch der US-Konzern Conoco-Philips angekündigt, ihre Arktis-Pläne zu verschieben bzw. abzuändern. Das macht Hoffnung, letztendlich auch Shell und Gazprom zur Vernunft zu bringen.

Tut Europa zu wenig gegen die Putins Öl-Lobby und seine Allmachts-Tendenzen?

HELMS: Es ist nicht alleine Putins Allmacht. Es sind alle Ölkonzerne - aus West wie Ost – die sich die letzten großen Reserven im hohen Norden unter den Nagel reißen wollen.

In welchem Zeitraum muss man die flächendeckende Ausbeutung der Bodenschätze am Nordpol befürchten?

HELMS: Das ist schwer vorauszusagen. Die Pannenserie von Shell im letzten Jahr zeigt doch eindeutig, mit welchen Unwägbarkeiten zu rechnen ist, wenn man an die Rohstoffe in der Arktis will. Damit die Ölfirmen in der Arktis bohren können, müssen sie Eisberge von den Plattformen fernhalten und Treibeis mit gewaltigen Wasserkanonen zum Schmelzen bringen. Außerdem sind Ölbohrungen nur innerhalb von zwei Monaten im kurzen arktischen Sommer möglich. Und wenn wir jetzt handeln, wird es hoffentlich dazu nie kommen. Am Beispiel Antarktis zeigt sich, dass es geht. Vor 30 Jahren rief Greenpeace in einer weltweiten Kampagne zum Schutz der Antarktis auf - am Südpol wollten Staaten und Konzerne Bodenschätze abbauen, neue Ölvorkommen sollten erschlossen werden. Niemand glaubte damals, dass es möglich wäre einen ganzen Kontinent unter Schutz zu stellen. Doch die globale Kampagne war erfolgreich: 1991 unterzeichnen 42 Staaten ein Umwelt-Zusatzabkommen zum Antarktis-Vertrag, in dem der Kontinent Antarktis zu einem "dem Frieden und der Wissenschaft gewidmeten Natur-Reservat" erklärt wurde. 1998 trat das Abkommen in Kraft, das 50 Jahre lang im "Weltpark Antarktis" jeglichen Rohstoffabbau verbietet. Greenpeace kämpft dafür, dass die Arktis ebenso umfassend unter Schutz gestellt wird.

Klimawandel ist und bleibt ein Reizthema – es gibt sogar Stimmen, die behaupten, das Eis am Nordpol schmelze nicht und Wetter wie in den letzten Wochen/Monaten als "Beweis" für eine neue Eiszeit hernehmen. Gibt es noch wissenschaftliche Zweifel daran, dass die Eisdecke in der Arktis dünner wird?

HELMS: Nein, einen wissenschaftlichen Zweifel gibt es nicht, denn der Trend ist eindeutig. Seit 1979 erfassen Satelliten die Fläche des arktischen Meereises. Pro Dekade hat das jährliche Minimum der Eisbedeckung in den letzten 30 Jahren um elf Prozent abgenommen. Mit Daten des NASA-Satelliten "ICESat" haben Forscher den dramatischen Rückgang des Meereises in der Arktis bewiesen - man kann mit Hilfe von Lasern zentimetergenau die Eisdicke messen.

Rosneft hat bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kooperationen mit ExxonMobil unterzeichnet, um die Arktis auszubeuten. Welche Konzerne könnten sich noch anstellen?

HELMS: Fast alle der weltweit größten Ölkonzerne haben bereits in irgendeiner Form Partnerschaften mit russischen Ölgesellschaften. Neben Shell und Exxon, beäugen bereits BP, Statoil und Eni Gebiete wie die Petschorasee (ein Randmeer der Barentssee abseits der russischen Arktis, Anmerkung). Doch obwohl diese Unternehmen bereits Verträge unterschrieben haben, liegt die Umsetzung noch Jahre entfernt bzw. wird gar nicht passieren. Verfolgt man die Aktivitäten von Shell, Statoil und Conoco Phillips, sieht man, dass Powerpoint-Präsentationen meilenweit von der Realität von tatsächlichen Bohrungen in diesem wohl unbequemsten und herausforderndsten Ort des Planeten entfernt liegen.

Warum ist es so schwierig, die Arktis zu schützen? Liegt es daran, dass sich nationale Regierungen vor dem Druck der Konzerne beugen und selbst Profit erhoffen? Oder daran, dass internationales Recht völlig zahnlos ist bzw. gar nicht existiert?

HELMS: Alles stimmt ein wenig. Auch innerhalb des Arktischen Rates könnte man den Schutzaspekt deutlich erhöhen. Internationales Recht ist immer so schlaff, wie es die einzelnen Staaten zulassen. Hier haben NGOs als Vetreter der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle, um Lobbying für die Umwelt zu übernehmen – nicht nur in den internationalen Gremien selbst, sondern auch innerhalb der vertretenen Staaten, die mit ihrer nationalen Gesetzgebung die Latte höher legen können z.B. per Parlamentsbeschluss, Regierungsposition – dies gilt natürlich auch für Österreich. Das Problem der Arktis ist, dass sich bisher internationales Seerecht wenig um sie "gekümmert" hat, da es in der Vergangenheit kaum industrielle Nutzungsinteressen gab. Dies zeigt sich z.B. auch bei der Fischerei. Denn das zurückweichende Meereis lässt nun auch die Herzen der Fischerei-Industrie höher schlagen: Neue, bisher unangetastete Fischgründe tun sich auf. Je weiter das ewige Eis zurückweicht, desto weiter dringen die industriellen Fischereiflotten nach Norden vor. Es gibt kein internationales Abkommen, das das Fischen in den inzwischen eisfreien Bereichen regelt oder gar verbietet. Existierende bilaterale Verträge zwischen Kanada und den USA oder Russland sparen riesige Gebiete wie die Beaufort-See aus. Der weitaus größte Teil des Nordpols gilt als internationales Gewässer. Zwar ruft das internationale Seerecht für eisbedeckte Hochsee-Gebiete sehr wohl zur internationalen Kooperation zum Schutz der Meeresumwelt auf, allerdings sieht auch das Seerecht keine Regelung für die Fischerei vor. Doch ohne Regeln und Kontrolle droht der Arktis in wenigen Jahren ein ähnlich dramatischer Raubbau wie dem Rest der Ozeane.

Was kann Österreichs Politik tun – interessiert sich Umweltminister Nikolaus Berlakovich für das Thema?

HELMS: In Österreich gibt es seit Februar 2013 einen Parlamentsbeschluss, der die Bundesregierung auffordert, aktiv für ein Schutzgebiet in der Arktis – sei es auf EU- oder UN-Ebene – aufzutreten. Weitere Punkte der Forderung sind, Österreich solle bei der Vertragsstaatenkonferenz des Washingtoner Artenschutzabkommen im kommenden März dafür eintreten, den Eisbären auf die Liste der zu schützenden Tiere zu stellen und auf die Förderung umweltgefährdender Industrie-Projekte in der Hohen Arktis verzichten.

Wer hat am meisten zu reden in Sachen Arktis – welche Rolle spielen im speziellen Norwegen und der Arktische Rat?

HELMS: Der Arktische Rat spielt eine große Rolle: Dieser hat bis jetzt jedoch sehr wenig unternommen, um konkrete Gesetze zu schaffen, die die Arktis schützen können. Stattdessen scheint diesem eher daran gelegen, die Interessen der arktischen Anrainerstaaten zu unterstützen. Die Arktis ist aber mehr als die Grenzen der einzelnen Nationalstaaten und hier muss der Widerstand aufgebrochen werden. Eine intakte Arktis ist für uns alle überlebenswichtig. Ein Verlust der Eisdecke bedeutet den Verlust einer globalen Kühlmaschine mit unvorhersehbaren Folgen, deren erste Auswirkungen wir schon jetzt zu spüren bekommen. Vielleicht lässt sich die Situation mit der der Internationalen Walfangkommission vergleichen: Bis in die 1970er-Jahre war die IWC ein reines Gremium der Walfangnationen, deren Thema die Aufteilung der Walfangquoten war. Als man merkte, dass diese Länder allein nicht in der Lage sind, den Walfang wesentlich zu reduzieren, traten andere Nichtwalfangländer der IWC bei – mit einer anderen Agenda die für ein Walfang-Moratorium und ein Walschutz-Gebiet in der Antarktis sorgten.

Welche weiteren Aktionen plant Greenpeace?

HELMS: Die internationale Kampagne zum Schutz der Arktis wird weitergehen. Und da kommt es nicht nur auf Greenpeace an – jeder Einzelne kann sich für den Schutz der Arktis engagieren ob per Unterschrift auf der Petition auf www.schuetztdiearktis.at oder bei Aktionen, wie jener am 20. April 2013 um 11:00 Uhr am Wiener Stephansplatz, bei der wir ein menschliches Banner formen werden ("I love Arctic"). Dies wird weltweit in großen Städten passieren - die Fotos werden gesammelt an den Arktischen Rat übergeben.