Setzt sich der Trend sinkender Inflationsraten in der Euro-Zone fort, „dann könnte es angemessen sein, die Zinsen zu senken“. Das ist es wieder, die unnachahmliche Melange aus Konjunktiv und Unbestimmtheit. Eine Melange freilich, die zum Standardrepertoire der Notenbanken gehört. Und diesmal dennoch Aussagekraft hat. Dass die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen – zum fünften Mal in Folge übrigens – auch diesmal nicht angetastet hat, der Leitzins also weiter bei 4,5 Prozent und der Einlagensatz bei vier Prozent verharrt, kommt nicht weiter überraschend. Es sind die Andeutungen, die Zwischentöne, ja, die Räusperer von EZB-Präsidentin Christine Lagarde im Anschluss an die Ratssitzung in Frankfurt, denen alle Aufmerksamkeit galt. Bereits im Vorfeld galt der 6. Juni, wenn die Ratsmitglieder das nächste Mal zusammentreffen, als kalendarischer Favorit für die ersehnte Zinswende.

Daran hat sich gestern nichts geändert, auch wenn sich Lagarde „auf keinen Zinspfad“ festlegen wollte. Den konkreten Zeitpunkt lässt sie also noch offen, betont aber auch: „Im Juni werden wir viel mehr Daten und neue Projektionen haben.“ Die Kombination aus gesunkener Inflation und sehr schwacher Konjunktur spricht damit für die erste Zinssenkung seit Sommer 2022. Dass der Zentralbank-Jargon vage bleibt, hat auch mit Erwartungsmanagement zu tun. Es geht darum, die Märkte vorzubereiten, möglichst behutsam. Wie schnell sich Spekulationen über geldpolitische Maßnahmen verselbstständigen können, hat der vergangene Herbst eindrucksvoll gezeigt. Damals wurden erste zarte Signale einer nahenden Zinswende derart überinterpretiert, dass es an den Börsen – in Erwartungen rasant sinkender Kreditkosten – zu einer regelrechten Euphorie gekommen war.

Die EZB, so wurde gemutmaßt, könnte womöglich bereits im März oder April erstmals zur Tat schreiten – und die Zügel lockern. Für die USA und ihre Notenbank Fed wurde bereits ein regelrechtes Drehbuch verfasst – sechs Zinssenkungen, so eine weit verbreitete Einschätzung, werde es ab Frühjahr dieses Jahres geben. Heute wissen wir: Beides bewahrheitete sich nicht. Dabei warnte etwa Lagarde, in diesem Fall nicht verklausuliert, sondern glasklar: „Allen, die deshalb gleich auf eine baldige Zinssenkung spekulieren, sage ich: Vorsicht, es haben sich schon manche verspekuliert.“ Besonders deutlich zeigt sich das derzeit in den USA. Von sechs Zinssenkungen ist keine Rede mehr, die Inflationsrate hat dort zuletzt sogar wieder zugelegt und liegt mit 3,5 Prozent weit von den angepeilten zwei Prozent entfernt. Gleichzeit erlebt der US-Arbeitsmarkt, den die Fed per Mandat ebenfalls zu berücksichtigen hat, einen Boom. Eine erste Zinssenkung wird jenseits des Atlantiks mittlerweile frühestens im zweiten Halbjahr für realistisch gehalten. Einige Fed-Vertreter ziehen sogar in Zweifel, ob die Zinsen heuer überhaupt noch gesenkt werden.

Damit wird immer wahrscheinlicher, dass die EZB, die das Thema Inflationsbekämpfung durch Zinserhöhungen einst deutlich später als die Fed in Angriff genommen hat, mit der Zinssenkung früher dran sein wird. Ein Szenario, das noch vor einigen Wochen ebenfalls undenkbar schien.