Eigentlich will Giesswein für Wohlgefühl stehen. Jüngst aber zogen düstere Wolken über dem Tiroler Textilhersteller, bekannt für seine Merinowolle-Schuhe, auf. Giesswein verlautbarte, Teile der Produktion aus Brixlegg abzuziehen. Vermutlich ins Ausland, explizit erklären wollte sich das Unternehmen diesbezüglich nicht. Die Verlagerung sei eine Reaktion auf „aktuelle Herausforderungen“, hieß es. Explizit führte Giesswein „zunehmende EU-Regulierung, steigende Verwaltungs-, Energie- und Lohnkosten“ an.

Womit das mittelgroße Unternehmen plötzlich zum Sinnbild einer schwelenden und viel größeren Debatte im Land avanciert: Müssen wir uns um den Industriestandort Österreich sorgen?

„Österreichs Industrie steht unter großem Druck“

Geht es nach Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer, müsste man die Frage mit Ja beantworten. Im Auftrag der Kammer befragte das Beratungsunternehmen Deloitte von 11. bis 31. Jänner mehr als 500 Groß-, Mittel- und Kleinunternehmen der heimischen Industrie. Zentrale, alarmierende Erkenntnis der Erhebung, niedergeschrieben auf Seite fünf des Berichts: „Österreichs Industrie steht unter großem Druck.“

Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer: „Produktionsverlagerung ist gelebte Realität“
Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer: „Produktionsverlagerung ist gelebte Realität“ © APA / Herbert Neubauer

Die Autorinnen und Autoren der Studie führen das auf unterschiedliche Faktoren zurück. Einerseits hätten internationale Handelskonflikte und Spannungen zwischen den großen Wirtschaftsblöcken den globalen Wettbewerb in den letzten Jahren verschärft. Andererseits würde die Industrie in Österreich speziell unter „hohen Arbeits- und Energiekosten sowie zunehmender Bürokratie und gestiegenen regulatorischen Anforderungen“ leiden.

Ein Amalgam, das Existenzsorgen hervorruft. Sehen doch drei von vier Betriebe der Deloitte-Studie die „Gefahr einer De-Industrialisierung Österreichs“. Dass diese Projektion nicht völlig losgelöst ist, legt eine andere Zahl nahe. So geben 41 Prozent der befragten Unternehmen an, in den letzten drei Jahren bereits „Teile der Wertschöpfungskette“ verlagert zu haben.

Ja, zurzeit ziehen „Unternehmen Verlagerungen von Produktionsschritten in Erwägung“, schildert auch Werner Hölzl, Ökonom am Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo), das Ergebnis jüngerer Untersuchungen des eigenen Hauses. Hölzl: „Die Intensität dieser Überlegungen hat im Vergleich mit vorherigen Befragungen deutlich zugenommen“.

„Der Prozess der Deindustrialisierung ist schleichend, nicht sofort merkbar“, sagt dazu Stefan Stolitzka, Chef des Schuhherstellers Legero United und Präsident der Industriellenvereinigung Steiermark. Aktuell würde man hierzulande jedenfalls an „Standortattraktivität und Wettbewerbsfähigkeit“ verlieren. Eine Folge dessen sei, dass Betriebe Investitionen zurzeit „entweder gänzlich überdenken oder aber an anderen Standorten der jeweiligen Unternehmen im Ausland tätigen“.

Stefan Stolitzka, Präsident der Industriellenvereinigung Steiermark
Stefan Stolitzka, Präsident der Industriellenvereinigung Steiermark © IV/Kanizaj

Keinen Zuckerguss legt auch Timo Springer, Chef der weltweit agierenden Maschinenfabrik Springer in Friesach und Präsident der Kärntner IV, um seinen Befund: „Die Politik bereitet sich auf die Wahl vor und vergisst, dass sie für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes verantwortlich ist.“ Man beobachte auch in Kärnten „quer durch alle Industrien“, dass Investitionsentscheidungen aufgeschoben oder ins Ausland verlagert werden. „Vor uns tut sich ein Abgrund auf“, will Springer wachrütteln.

Timo Springer, Präsident der Industriellenvereinigung Kärnten
Timo Springer, Präsident der Industriellenvereinigung Kärnten © Weichselbraun Helmuth

Lohnstückkosten verbesserten sich 2022 noch

Wenngleich, und an dieser Stelle legt Wifo-Ökonom Hölzl einen bewussten Einkehrschwung ein, im Industrieland längst nicht alles verloren sei. Tatsächlich habe sich „die Industrieproduktion seit der Finanzkrise positiv entwickelt“, sagt er im Interview, „und in den letzten Jahren jedenfalls positiver, als es etwa in Deutschland der Fall war.“

Auch andere Kennzahlen lassen nicht nur triste Schlüsse zu. In der Analyse eines Standorts blicken Wirtschaftsforscher etwa gerne auf die „relativen Lohnstückkosten“ als Vergleichsgröße. Diese fassen die Veränderungen von Arbeitskosten, Produktivität und Wechselkurs zusammen. Allgemein gesprochen gilt: Niedrigere Lohnstückkosten stehen für höhere Wettbewerbsfähigkeit. Steigen die Löhne im Land, ohne, dass die Produktivität der Betriebe zunimmt, steigen die Lohnstückkosten.

In Österreich konstatierte das Wifo für das Jahr 2022 eine „deutliche Verbesserung der relativen Lohnstückkosten“. Sowohl gegenüber dem „gewichteten Durchschnitt aller Handelspartner“ (-3,3 Prozentpunkte) als auch gegenüber „den EU-Handelspartnern“ (-1,7 Prozentpunkte). Schon 2021 hätte sich dieser Trend abgezeichnet, nachdem die Wirtschaftsforscher davor eine „längere Phase stabiler Lohnstückkosten“ beobachteten.

Die Folgen hoher Lohnabschlüsse

Mittlerweile dürfte sich das Bild gedreht haben. Auch wenn das Wifo die Entwicklung im Jahr 2023 noch nicht final berechnete, liegt die Vermutung nahe, dass die hohen Lohnabschlüsse der letzten beiden Jahre im Land den Druck auf die Arbeitgeber tatsächlich deutlich erhöhten.

So prognostiziert etwa die Nationalbank, dass die Lohnstückkosten bis 2026 in Österreich voraussichtlich um 26,4 Prozent steigen werden, während sie im Durchschnitt der Währungsunion nur um 18,1 Prozent anziehen.

„Knapp hinter dem oberen Drittel“

Um die wahre Qualität eines Standorts zu bewerten, blicken Ökonominnen und Ökonomen freilich längst über wirtschaftliche Zielgrößen hinaus und bewerten verstärkt auch soziale und ökologische Aspekte. Vier große Themenfelder macht etwa das Wifo in seinem „Wettbewerbsradar“ aus. Neben der Einschätzung von „Arbeitsmarkt und sozialen Lebensverhältnissen“, „Außenhandel“ und dem „Einsatz natürlicher Ressourcen“ analysieren die Ökonomen dabei die Entwicklung von „regionalem Pro-Kopf-Einkommen und Produktivität“. Im Dezember befand man beim Wifo, dass Österreich im Radar „knapp hinter dem oberen Drittel der rund 30 europäischen Vergleichsländer liegt“.

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die große De-Industrialisierung nicht stattfindet. Ob ein „noch“ eingefügt werden müsste, bleibt offen. Unstrittig ist, dass die Stimmung in der Industrie, vor allem in der energieintensiven, schon einmal besser war. Und, dass sich Gefühlslage und darauf folgende betriebswirtschaftliche Entscheidungen erst im Nachhinein niederschlagen werden.

Martin Kocher im Gespräch mit der Kleinen Zeitung
Martin Kocher im Gespräch mit der Kleinen Zeitung © Olga Bereslavskaya

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