Färbt ein Name auf den Charakter einer Person ab, die ihn trägt? Vermutlich ist dies eine krude Theorie und dennoch hat sie beim knapp zehnjährigen Willi Stocker gestimmt. Er war kleiner als die übrigen Buben in unserer Schulklasse, er war vorlaut und wenn er auch tatsächlich brünett war, so habe ich ihn ein wenig rotblond in Erinnerung. Er war so, wie ein Willi eben zu sein hat. Ein Bub, den man unter Hochziehen der Augenbrauen als einen "Spitzbuben", vielleicht auch als einen "kleinen Schlingel" bezeichnet hat.

Diesen Ruf hat sich Willi unter anderem über seinen Esel erworben. Der hat oft Nachmittage lang das ganze Dorf von St. Lorenzen/Mürztal mit seinem gezogenen Geschrei gequält. Einige haben vermutet, das Grautier habe zu wenig zu fressen - die Wahrheit war eine ganz andere: Willi hat dem Esel Semmeln gefüttert, die er zuvor in Schnaps getaucht hat. Da ist noch eine Erinnerung, die Willi gut beschreibt. Einmal die Woche zog er seine Ziehharmonika auf einem hölzernen Leiterwagen ins Nachbardorf. Aber immer dann, wenn er besonders schnell trappelte, wusste man: er war nicht schnurstracks zum Unterricht unterwegs, sondern da gab es noch vieles, das er am Weg zu erledigen hatte und das ihn mehr faszinierte als die Knöpfe und Tasten seiner Akkordeons.

Seltenes Schicksal. Das war vor vierzig Jahren. Vor wenigen Wochen haben wir uns in seiner Wohnung in Köflach wieder gesehen. Seine Frau Monika hat mich schon vorgewarnt, Willi leide an ALS und die Krankheit schreite rasch voran. Dass die äußerst seltene amyotrophe Lateralsklerose, bei der es zu einer Lähmung beinahe aller Muskeln kommt, überhaupt bekannt ist, verdankt die Öffentlichkeit dem Astrophysiker Stephen Hawking. Verkrampft liegt dieser in seinem elektrischen Rollstuhl und nach dem Verlust seiner Stimme kommuniziert er mittels eines Sprachcomputers. Aber er arbeitet weiter und publiziert Bestseller wie "Die kürzeste Geschichte der Zeit".

Immer weniger Leben. Bei Willi Stocker ist arbeiten nicht mehr möglich. Nicht einmal mehr die CDs, die er in den langen Nächten hört, um sich ein wenig abzulenken, kann er per Fernbedienung selbst wechseln. Und wenn seine Hand, die auf der Armlehne ruht, von dort abrutscht, dann muss seine Frau diese wieder in eine ihm angenehme Position bringen. Nur seinen Kopf und seine Augen kann er noch bewegen. Und noch kann er leise sprechen - bald aber wird seine Stimme ganz verschwunden sein. Willi, der lustig-agile, wird in seinen Bewegungen immer reduzierter und das bei vollem geistigen Bewusstsein.

Scham. Auch wenn ich auf seine Lähmung vorbereitet bin, so gehe ich doch auf ihn zu und will ihm die Hand schütteln - eine Geste der Höflichkeit, derer man sich in dem Augenblick, in dem man sie setzt, auch schon wieder schämt. Willi kann die Hand zum Gruß nicht mehr heben, die einzige ihm noch mögliche Reaktion über unser Wiedersehn, derer er noch fähig ist, sind Tränen. Dann erzählt er mit leiser Stimme: "Es war Anfang Juni 2004. Ich war Pannenfahrer beim Arbö. Plötzlich kann ich mit dem rechten Fuß nicht mehr auftreten." Willi Stocker tröstet sich mit Beschwerden im Rückgrat, die ihn schon seit Jahren plagen. Jemand, der wie Willi gerne arbeitet, kaschiert seine Wehwechen vor den Kollegen und verheimlicht sie auch seiner Frau, die eines Tages doch bemerkt: "Wie du aber komisch gehst!"

Keine Ärzte. Noch immer ist ihm der Gedanke an einen Arztbesuch fremd. Statt dessen versucht er mit gezielten Gedanken sein Hinken zu beherrschen: "Ich wusste vom Kopf her, wie man geht, aber bis in den Fuß ist mein gedanklicher Befehl nicht mehr durchgedrungen. Ich hatte immer das Gefühl, als wäre mein rechter Fuß beim Laufen langsamer." Die Situation bessert sich auch durch den Vertröstungssatz "Wird schon wieder werden!" nicht. Ganz im Gegenteil: Sie verschlechtert sich. Bis zu einem Meniskuseinriss übernimmt das linke Bein die Arbeit des rechten.