Seit Jänner gibt es in Hartberg eine Ambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Wie ist es angelaufen?
THOMAS TRABI: Es ist gut angelaufen. Wir sind gut gefüllt und bis Anfang Mai voll. Wir sind zwar keine Akutambulanz, wenn es aber akuten Bedarf gibt, kann man sich telefonisch melden, dann versuchen wir einen Termin einzuschieben.

Hartberg ist eine dislozierte Stelle des LKH Graz II, Standort Süd. Eine davon gibt es auch in Leoben. Warum ist ein Standort in der Oststeiermark wichtig?
Generell ist in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine möglichst lebensnahe Behandlung wichtig. Es macht Sinn, die Jugendlichen ambulant oder tagesklinisch zu behandeln, aber so gut es geht, in ihren Bezugssystemen zu belassen, weil jede Verhaltensänderung im primären Lebensumfeld Sinn ergeben muss. Veränderung in einem stationären Setting sagen nicht aus, dass das zu Hause dann auch so ist. Wichtig ist auch, dass der Behandlungsort gut erreichbar ist. Ich kann nicht verlangen, dass jemand aus dem Südburgenland sein Kind täglich in eine Tagesklinik nach Graz bringt.

Mit welchen Erkrankungen kommen Kinder und Jugendliche in die Ambulanz?
Die ersten Kinder kommen im Schulalter zu uns, üblicherweise aus dem ADHS-Bereich. Manchmal geht es in diesem Alter auch um Ticks, die meist harmlos sind. Aber auch Zwangsstörungen wie Waschzwänge oder Ängste beginnen manchmal schon im Schulalter. Das wurde durch die Pandemie begünstigt.

Ist seit Ausbruch der Pandemie auch die Zahl der jungen Patienten gestiegen?
Ja, definitiv. Pandemiebedingt merken wir den größten Anstieg im Bereich der depressiven Erkrankungen. Die ganzen Corona-Begleitmaßnahmen wirken sich massiv auf das psychische Befinden der Jugendlichen aus. Und, die Symptomatik ist meistens deutlich schwerer als vor einigen Jahren. Die Erstbehandlung bei Depressionen ist ja eigentlich immer eine psychotherapeutische, mittlerweile sehe ich aber deutlich mehr depressive Kinder, wo es von Anfang an medikamentöse Unterstützung braucht. Gerade bei den Jugendlichen spielt die lange Isolation, das Wegfallen sozialer Kontakte oder das Schließen der Gastronomie dabei eine entscheidende Rolle.

Und wie schaut es mit dem Krieg in der Ukraine aus?
Der wirkt sich im Sinne einer gewissen Perspektivenlosigkeit aus. Jugendliche, die sowieso schon eine depressive Symptomatik haben, tun sich schwer, aufgrund der politischen Lage Perspektiven zu entwickeln. Sie denken sich: Pandemie, Krieg, Klimakrise – es macht eh alles keinen Sinn. Ich habe immer wieder Patienten, die kognitiv hochleistungsfähig und bis vor kurzem im Leben gestanden sind und jetzt in eine so starke Depression gefallen sind, dass sie nicht einmal mehr in die Schule gehen können.

Welche Faktoren tragen dazu bei?
Natürlich spielt die Familie und wie sie mit diesen Situationen umgeht, eine Rolle. Einen wichtigen Einfluss hat aber auch das grundsätzliche Temperament von Jugendlichen. Ein ängstlicher und grüblerischer  Jugendliche ist eher gefährdet, von solchen Ereignissen hinuntergezogen zu werden. Auch sehr intelligente Jugendliche sind gefährdeter. Grundsätzlich ist aber niemand davor gefeit, im Laufe seines Lebens eine psychische Krankheit zu entwickeln. Menschen halten unterschiedlich viel Stress aus, wenn man diesen erhöht, wird jeder irgendwann psychiatrisch auffällig reagieren.

Dieser Bereich der Medizin ist oft mit Vorurteilen behaftet. Ändert sich da etwas?
Das ist eine der wenigen positiven Auswirkungen der Pandemie. Das Stigma wird durch die Zunahme der psychischen Erkrankungen weniger, es fällt den Menschen leichter, über psychische Erkrankungen zu reden. Oft höre ich: „Ich bin ja kein Psycho, ich geh nicht in Psychotherapie“. In Wirklichkeit ist das aber nichts Außergewöhnliches, nur wird meistens nicht darüber geredet. Da braucht es noch viel Aufklärungsarbeit.

Zum Beispiel?
Beispielsweise, dass es für Psychotherapie eine Reflexionsfähigkeit braucht und dass es eine intellektuell sehr fordernde Behandlungsvariante ist. Man kann es auch als Kompliment empfinden, wenn Psychotherapie empfohlen wird.

Wann sollen sich Kinder und Jugendliche an euch wenden?
Wenn sie vor Problem stehen, die sie selber oder mithilfe ihrer Familien nicht mehr lösen können. In vielen Fällen wird zu lange gewartet, bis beispielsweise eine depressive Symptomatik schon sehr ausgeprägt ist. Dann dauert es auch viel länger, wieder herauszukommen.

Wie kann man sich ein Erstgespräch vorstellen?
Man kann anrufen und sich einen Termin ausmachen. Das ist alles unverbindlich. Wir schlagen dann nur vor, was wir für sinnvoll halten. Was es definitiv nicht gibt, sind irgendwelche Zwangsmaßnahmen, davor muss niemand Angst haben.

Ab Herbst ist auch eine Tagesklinik geplant. Was heißt das konkret?
Üblicherweise werden die Jugendlichen dort zwischen sechs und acht Wochen von Montag bis Freitag behandelt. Am genauen inhaltlichen Konzept arbeiten wir gerade. Vielleicht wird es auch Angebote geben, die nicht den ganzen Tag dauern, dafür aber länger. Vorstellbar wäre, dass Jugendliche, die in der Stammschule gut zurechtkommen, erst am Nachmittag zu uns kommen.

Kinder werden dann auch von einer Pädagogin vor Ort unterrichtet. Warum ist das wichtig?
Wenn man an intellektuelle Störungen, Aufmerksamkeitsprobleme oder den ADHS-Bereich denkt, sieht man im Austausch mit der Schule, ob die Behandlung ein positives Ergebnis bringt oder nicht. Was man in der Schule auch beobachten kann, ist, wie sich Kinder in Gruppen oder im Sozialkontakt verhalten. Das ist für die Diagnostik wichtig. Ein Gespräch ist nämlich immer eine ganz andere Situation, als wenn man sie in Gruppen von Gleichaltrigen erlebt.

Und was wünschen Sie sich für die Zukunft der Kinder- und Jugendpsychiatrie hier am Standort Hartberg?
Ich wünsche mir eine gute personelle Ausstattung und ein Angebot, das den Bedarf deckt. Schön wäre es, wenn wir eine Versorgungsstruktur schaffen können, die auch die Versorgungslücke zwischen psychiatrischer Versorgung und Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen schließt.