Einmal Hand aufs Herz: Ein kurzes, reflexhaftes Kopfschütteln ist in solchen Momenten den meisten schon einmal entfahren. Die Rede ist von jenen Fällen, in denen es eine geschützte Vogelart, ein seltenes Insekt oder ein bedrohtes Reptil in die Schlagzeilen schafft, weil seine Existenz ein gröberes Infrastrukturprojekt verzögert oder gar zu Fall bringt.

Die Liste derartiger Vorkommnisse ist lang und reicht vom legendären Wachtelkönig, der einst den Bau der vierspurigen Ennsnahen Trasse in der Steiermark kippte, bis hin zum Juchtenkäfer, der den Planern des Stuttgarter Bahnhofs das Leben schwermachte. Jüngster Anlassfall ist der Wiesenknopf Ameisenbläuling – ein über die europäische FFH-Richtlinie geschützter Schmetterling, dessen Habitat im Burgenland die Fertigstellung der Fürstenfelder Schnellstraße (S7) um ein Jahr verzögern wird.

Darf denn das sein, dass millionen- oder gar milliardenschwere Infrastrukturprojekte aufgehalten, verteuert oder überhaupt verunmöglicht werden, nur weil eine Tierart, die außer Experten kaum jemand kennt, „von der EU“ unter Schutz gestellt wurde?

Schrumpfende Artenvielfalt

Ja, es darf. Und in vielen Fällen muss es sogar. Das ganz abgesehen davon, dass „die EU“, die hier Schutzvorschriften erlässt, nicht unbotmäßig, sondern im Namen jener Mitgliedsstaaten handelt, aus denen sie sich zusammensetzt. Solche Schutzgüter, so lächerlich sie im konkreten Anlassfall erscheinen mögen, erfüllen einen wichtigen Zweck – nämlich dem fortschreitenden Artenschwund einen Riegel vorzuschieben. Denn die Biodiversität schrumpft nicht nur im fernen Amazonasgebieten, die Naturräume sind auch in Europa auf rasantem Rückzug. Das belegt ein aktueller Bericht der EU-Umweltagentur EEA.

Fatale Folgen

Auf Basis der umfangreichsten Datensammlung, die laut der Agentur jemals in Europa zum Zustand der Natur vorgenommen worden ist, stellten die Experten Ernüchterndes fest: Intensive Land- und Forstwirtschaft, wachsende Siedlungs- und Verkehrsflächen sowie Umweltverschmutzung haben die biologische Vielfalt zwischen 2013 und 2018 trotz der vorhandenen Schutzvorschriften kleiner werden lassen. Das einzelne Juchtenkäfer- oder Schmetterlingsvorkommen mag im Vergleich zu einem Straßen- oder Kraftwerksprojekt lächerlich erscheinen, in Summe aber hat das Zurückdrängen von naturbelassenen Flächen fatale Folgen.

63 Prozent in schlechter Verfassung

63 Prozent der fast 1400 Arten, die unter der erwähnten FFH-Richtlinie geschützt sind, sind nach dem Bericht in schlechter Verfassung. Bei den Lebensräumen sind sogar 81 Prozent in unzureichendem Zustand. Von den 463 europäischen Wildvogelarten, die unter die Vogelschutzrichtlinie fallen, sind nur noch 47 Prozent in gutem Zustand – um fünf Prozentpunkte weniger als vor 2013.

Wichtige Aussagen des EEA-Berichts sind in dieser Grafik zusammengefasst
Wichtige Aussagen des EEA-Berichts sind in dieser Grafik zusammengefasst © EEA

In Brüssel werden deshalb Pläne gewälzt, die Schutzgebiete deutlich auszuweiten. Ziel der neuen Biodiversitätsstrategie: Bis 2030 sollen mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresfläche der Union unter Schutz stehen. Bislang sind es etwa 18 Prozent der Land- und 10 Prozent der Meeresfläche. Doch Naturschutzgebiete alleine sind laut dem EEA-Generaldirektor Hans Bruyninckx nicht ausreichend, um die fatale Entwicklung des Artenschwunds aufzuhalten. Nötig seien grundlegende Änderungen in der Lebensmittelherstellung, im Siedlungswesen – und im Klimaschutz.

Österreichische Zurückhaltung beim Klima

Letzteres haben sich EU-Kommission und EU-Parlament mit der Verschärfung der Klimaziele bis 2030 vorgenommen. Der EU-Gipfel vergangene Woche hätte diesbezüglich weitere Fortschritte bringen sollen. Elf Staaten, darunter Dänemark, Frankreich, Schweden und Spanien, hatten zum Auftakt mit einer gemeinsamen Erklärung gefordert, die Treibhausgase, wie von der Kommission vorgeschlagen, bis 2030 um 55 Prozent unter das Niveau von 1990 zu drücken. Auch Deutschland hatte sich dem Vorschlag angeschlossen. Letztlich musste die Frage wegen Bedenken anderer (vor allem osteuropäischer) Staaten auf Dezember vertagt werden. Interessant war dabei die Rolle Österreichs.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) erklärte zwar, den „ambitionierten Vorschlag für sinnvoll“ zu halten, wollte sich aber trotzdem noch nicht festlegen. Eigenartig ist das deshalb, weil  Österreichs Bundesregierung in ihrem Programm ein noch viel strengeres Klimaziel für das Land verankert hat, nämlich die Klimaneutralität im Jahr 2040. Steht die Regierung zu dieser Ansage, müsste der Treibhausgasausstoß im Land bis 2030 jedenfalls weit drastischer absinken, als es die europäischen Klimavorgaben vorsehen würden, wie Experten einhellig vorrechnen.

Keine Maßnahmen in Sicht

Wie ernst nimmt die Bundesregierung also ihr eigenes Regierungsprogramm? Diese Frage stellten manche Beobachter auch nach der Budgetrede von Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) vergangene Woche. Denn das künftige Budget sieht zwar tatsächlich deutlich mehr Geld für Klimaschutzmaßnahmen wie den Ausbau des Öffentlichen Verkehrs oder die Förderung von Ökostrom vor. Doch von den angekündigten Strukturmaßnahmen wie der ökologischen Steuerreform mit klaren Preissignalen in Bezug auf den Treibhausgasausstoß oder dem längst fälligen Abbau kontraproduktiver Subventionen fehlt noch jede Spur.Nichts davon bildet sich bislang in Blümels Zahlen ab.

Volksbegehren prescht vor

Druck, dass sich das ändert, wollen die Initiatoren des Klimavolksbegehrens machen. In einer Pressekonferenz forderten sie am Dienstag, die angestrebte Klimaneutralität Österreichs bis 2040 rasch in Gesetzesform zu gießen, und legten flankierend mehrere entsprechende Gesetzesvorschläge vor. Unter anderem soll das bis 2040 verbleibende Treibhausgasbudget Österreichs von etwa 700 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent verfassungsrechtlich verankert werden, flankierend sollen die jährlichen Emissionshöchstmengen festgeschrieben werden. Über die Einhaltung dieses Pfades soll als Organ des Nationalrats ein "Klimarechnungshof" wachen. Die Forderungen des Volksbegehrens selbst, die im Sommer mehr als 380.000 Unterstützer fanden, sollen im November im Umweltausschuss des Nationalrats behandelt werden.

Man darf gespannt sein, was die kommenden Monate klimapolitisch noch bringen werden.