"Irgendwie hat mich diese Gegend immer wieder gerufen", sagt Professor Janez Žmavc über Frohnleiten. "Auch wenn es manchmal schwer ist. Die Erinnerungen meiner Jugendzeit leben noch in mir." Der 87-jährige Präsident des Vereins der gestohlenen Kinder steht am Murfeld, wo sich damals die Baracken erhoben. Bei der heutigen Murapotheke waren im August 1942 insgesamt 650 slowenische Kinder untergebracht, die man zuvor von ihren Familien getrennt hatte. Das Jüngste war erst 14 Tage alt. Über ihre Ankunft in der Ortschaft heißt es im Bericht des Deutschen Roten Kreuzes: “Die hungrigen, matten, schmutzigen [...] Kinder [...] schrien und weinten und deutsche DRK-Helferinnen mussten diesen Jammerzug begleiten."

Janez Žmavc zu Besuch in Frohnleiten.
Janez Žmavc zu Besuch in Frohnleiten. © Ulli Gollesch

Ziel der Aktion war es, die Kinder im Dritten Reich einzudeutschen: "Unsere Rasse, die slowenische oder slawische, sollte aussterben", sagt Žmavc darüber. "Deshalb wird unsere Geschichte auch als Genozid beurteilt." Frohnleiten war dabei ein Übergangs- und Sammellager, von dem aus die Kinder - nach Geschlecht und Alter aufgeteilt - weiter nach Deutschland verschleppt wurden. "Meine Schwester und ich wurden  voneinander getrennt. Erst nach dem Krieg haben wir uns wiedergesehen."

"Es wird jetzt ausgesprochen" 

Die gestohlenen Kinder waren lange ein Tabuthema. Auch in Frohnleiten wurde kaum darüber gesprochen: In der kollektiven Erinnerung setzte sich bisweilen die Version durch, dass es sich bei den Kindern um Waisen gehandelt habe, denen man im Dritten Reich ein neues Zuhause geben wollte. Tatsächlich wurden die Eltern der sogenannten "Banditenkinder" vielfach in Auschwitz ermordet oder als Partisanen erschossen, aber erst nachdem man sie von ihren Kindern getrennt hatte. 

Eine "Lagerzkizze", die ein ehemaliger Frohnleitner aus der Erinnerung zeichnete.
Eine "Lagerzkizze", die ein ehemaliger Frohnleitner aus der Erinnerung zeichnete. © Ulli Gollesch

2014 nahm sich die slowenische Regisseurin Maja Weiss der Geschichte an und besuchte gemeinsam mit den ehemaligen "Banditenkindern" die Stationen ihrer Reise. Auch Frohnleiten, wo der damalige Bürgermeister Johann Ussar (SPÖ) betonte, dass diese Geschichte nie in Vergessenheit geraten dürfe. Dennoch wurde die fertige Dokumentation zwar in Leibnitz und Graz gezeigt, aber noch nie in Frohnleiten, dem Ort des Geschehens. "Es ist die letzte Gemeinde, die wir besuchen", sagt Regisseurin Weiss, "und wir spüren, dass sich etwas getan hat: Es wird jetzt langsam ausgesprochen." 

"Die gestohlenen Kinder sind wie eine große Familie"

Janez Žmavc kehrte 1945 nach Slowenien zurück, nachdem er drei Jahre in den Umerziehungslagern der Deutschen verbracht hatte. "Ich hatte dann das große Glück, meinen Vater lebendig vorzufinden", erzählt er. Žmavcs Mutter aber starb schon 1942 in Auschwitz, viele andere Kinder hatten sogar beide Elternteile verloren. Vierzehn- oder Fünfzehnjährige mussten oft die Aufgabe des Familienoberhauptes übernehmen. Kredite gab es für die Minderjährigen keine, auch wenn sie plötzlich zu Hofbesitzern geworden waren. "Dennoch waren sie zuhause", betont Weiss, "das war ein so starkes Gefühl, das hat ihnen geholfen, alles zu überwinden." Auch Žmavc, dem sein Vater später eine Ausbildung ermöglichte, bestätigt das: "Wir waren zufrieden, dass wir wieder in slowenische Schulen gehen konnten." Er pausiert kurz. "Aber ich vermisse meine Mutter bis heute."

Regisseurin Maja Weiss und Janez Žmavc präsentieren ihren Film in Frohnleiten.
Regisseurin Maja Weiss und Janez Žmavc präsentieren ihren Film in Frohnleiten. © Ulli Gollesch

1962 trafen sich die "Banditenkinder" - inzwischen schon Erwachsene - zum ersten Mal. 30 Jahre später gründeten sie ihren eigenen Verein, der jedes Jahr in der Schule von Celje, wo sie damals von ihren Eltern getrennt wurden, eine Gedenkfeier abhält. "Sie sind wie eine Familie", sagt Weiss, die für ihre Dokumentation auch die Treffen besucht hat. "Der Krieg hat sie zusammengeschweißt." Tatsächlich hielten die Kinder immer fest zusammen. "Wenn jemand damals im Lager ein Paket von daheim bekommen hat, wurde der Inhalt immer gut aufgeteilt", erinnert sich Žmavc. "Das war dann in einer halben Stunde weg." Er lächelt ein bisschen. Fraglich ist allerdings, wie lange es die Gruppe der gestohlenen Kinder überhaupt noch geben wird: "Unsere Zahl ist heuer auf ungefähr 140 gesunken, wir sterben langsam aus."

"Ihr werdet die Antworten finden"

Dass die Geschichte der Kinder jetzt endlich auch in Frohnleiten gezeigt wurde, ist der Initiative Erinnerungskultur zu verdanken, die sich seit Februar 2019 mit der Aufarbeitung der Zeit zwischen 1933 und 1950 beschäftigt. "Auf den Film über die gestohlenen Kinder bin ich schon aufmerksam geworden, als ich noch in Leibnitz unterrichtet habe", sagt Ulli Gollesch, die Teil des Projekts ist. "Ich wollte ihn schon immer nach Frohnleiten holen." 

Janez Žmavc, Maja Weiss und Ulli Gollesch (von links)
Janez Žmavc, Maja Weiss und Ulli Gollesch (von links) © Ludmilla Reisinger

Die Gruppe interviewt Zeitzeugen und setzt ihre Schwerpunkte neben den Banditenkindern auf die Arisierungen im Ort, die Schicksale der berühmten Fotografin Dora Kallmus und ihrer Schwester - die in Frohnleiten wohnte - sowie den Judenmarsch, der durch die Gemeinde führte. Auch über eine Art Denkmal werde nachgedacht: "Ein Ort, wo Vergessenes, nie Ausgesprochenes, Erinnerungen und Erlebtes Platz finden und für die Nachwelt festgehalten werden."

Ein Projekt, das auch der slowenischen Regisseurin Maja Weiss gefällt: "Ich finde es gut, was ihr macht. Am Anfang ist da immer nichts und Schritt für Schritt tut sich dann die Vergangenheit auf. Ich wünsche euch Geduld. Ihr werdet die Antworten finden."

Der Film "Banditenkinder" kann ab jetzt im Rathaus ausgeliehen werden, eine dazugehörige kleine Ausstellung ist bis Freitag, 13. Dezember zu sehen.