So sind sie, die Wiener. Am Land trägt der Bundeskanzler außer Dienst kurze Lederhose. Sommerfrische wie damals an diesem heißen Tag in Seckau, wo Wolfgang Schüssel immer wieder Luft holt oder sich auf in die Berge macht. Sein Auto parkt vor der Abtei und braucht offenbar auch Urlaub. Starthilfe tut not. Wir unterbrechen unser Gespräch im Café Regner, siedeln in den Klostergarten. Zettel und Bleistift lege ich dem gewitzten Zeichner prophylaktisch hin, vielleicht lassen sich seiner kreativen Ader ein paar Striche entlocken. Ganz ohne Starthilfe donnert ein Eurofighter über das Aichfeld. Wie geht es Ihnen dabei, Herr Doktor Schüssel? „Na gut!“. Wir blinzeln in das grelle Himmelsblau. Ein Stichwort.
Herr Doktor Schüssel, „Das Jahrhundert wird heller“ ist Titel Ihres Buches, welches Sie rund um Ihren 70. Geburtstag präsentierten. Wie finster ist es derzeit?
WOLFGANG SCHÜSSEL: Das muss man im längeren Zusammenhang sehen. Ich bin ja so alt wie die Zweite Republik. Wir sind viel zu sehr auf Katastrophen, Unglück, Negatives fokussiert und merken gar nicht, wie viel Positives passiert. 1945 kamen zwölf Millionen Flüchtlinge aus Osteuropa, die nicht überall freundlich aufgenommen wurden. Für uns gab es eigentlich eine unglaubliche Aufwärtsentwicklung. Hygiene, Bildung, et cetera. Nein, es ist nicht alles super, aber insgesamt glaube ich, dass wir uns nicht nur horizontal bewegen, sondern auch vertikal.
Welche Karikatur würde Ihnen spontan hier und heute einfallen?
SCHÜSSEL: Eine Sonne, die vom Himmel lacht, ein Vollmond, der die Nacht überstrahlt ... Wir dürfen da leben, wo andere Urlaub machen oder verzweifelt hinstreben. Das ist ein Privileg. Und eine Karikatur muss immer von selber kommen ...
Ich komme gerade von Wolf Fritzi, der nach seiner Flucht in die Glein mit dem Narkosegewehr erwischt wurde und wieder zurück in den Tierpark Mautern muss. Sehen Sie Tiere lieber im Zoo oder in Freiheit?
SCHÜSSEL: Vorsicht, Sie sprechen mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden des Schönbrunner Tiergartens! Das ist mein Baby, ich betreue es weiter. Tiergärten haben eine natürliche Arche Noah-Funktion, können natürlich nie die freie Natur ersetzen. Ich durfte einmal die Berggorillas in Ruanda sehen, heuer wollen wir zu den Flachlandgorillas. Vor zwei Jahren haben wir 200 Meter entfernt von unserer Hütte im Lachtal, die wir vor allem im Winter intensiv nutzen, die Spur einer Bärentatze gesehen. Wildbahnreservate sind wichtig.
Wer ist für Sie ein „richtiger Wolf“?
SCHÜSSEL: Der Sigi Wolf, weil der heißt schon so. Der ist eine Leitfigur und auch ein Steirer.
Wären Sie selbst ein Tier – welches?
SCHÜSSEL: Wahrscheinlich ein Rabe. Das sind weise Tiere, und Fliegen hat mich immer schon fasziniert. Ich kann es zwar nicht, aber laut Mythologie können Raben die Zukunft voraussagen, sind Boten für alle Dinge. In meinen Kinderbüchern kommen immer Raben vor. (Er zückt seinen Stift, beginnt zu zeichnen.)
Sie spielen Klavier, Akkordeon, Gitarre, Cello – welches Instrument würden Sie hier in Seckau bevorzugen?
SCHÜSSEL: Es passt alles. Gestern im Stift habe ich am Bösendorfer geklimpert.
Welche Musik fällt Ihnen ein?
SCHÜSSEL: Ich bin nicht wählerisch. Wir spielen im Winter im Lachtal immer drei Tage lang Hausmusik. Acht bis zehn Leute, ich spiele Cello. Das ist schön, wir sitzen drinnen und spielen. Das Brandenburgische Konzert oder Haydn oder Mozart ...
Was ist für Sie das Besondere an Seckau?
SCHÜSSEL: Ich bin als Kind hergekommen, meine Tante war hier Oblatin. Heute bin ich mindestens einmal pro Jahr hier. Seckau ist ein Ort der Kraft. Ich habe auch alle Berge bestiegen.
Haben Sie als Wanderfreund einen Lieblingsberg?
SCHÜSSEL: Nein, das wäre vermessen. Ich habe auch keine Lieblingsbücher oder Lieblingsmusik. Österreich hat so viele schöne Berge, die mithalten können mit den schönsten Gipfeln der Welt. Ich war im Everest Gebiet, am Mont Blanc und vielen anderen. Jede Tour ist etwas Besonderes, und es kommt auch auf die Gruppe an.
„Das ist doch der Gipfel!“ Wann ist Ihnen nach diesem empörten Ausruf?
SCHÜSSEL: Das ist nicht meine Sprache. Für mich ist ein Gipfel etwas Positives. Aber es gibt immer eine ambivalente Bedeutung. Wer nicht zweifeln kann, ist einfältig. Der Zweifel bringt uns weiter, auch in der Wissenschaft. Zweifel ist keine Schwäche, wie oft in der Politik interpretiert.
Bleiben wir sportlich – für welche Farben schlägt Ihr Fußballerherz?
SCHÜSSEL: Eigentlich schwarz. Ich meine Wacker Wien, aber die gibt es nicht mehr. Dann war ich bei der Austria, und ja, Sturm Graz ist auch schwarz-weiß.
Nicht ganz ernst gemeint: Sind wir schon Europameister?
SCHÜSSEL: Nein, das wäre absurd, aber wir haben ein Super-Team, das ein schönes Beispiel für gelebte Integration ist. Der Teamchef hat eine Superhand und einen Mehrwert geformt. Das ist die Kunst des Trainers. In der Politik ist es dasselbe.
Ihr Lieblingskarikaturist?
SCHÜSSEL: Das ist das Gleiche wie mit den Gipfeln. Es gibt so viele gute, auch in Österreich haben wir ein ganzes Fußballteam davon. Von Peichl bis Haderer.
Ihnen fehlt eine Top-Uni in Österreich. Es gab im Zusammenhang mit dem Ring Bemühungen um eine universitäre Einrichtung.
SCHÜSSEL: Ja, das wäre etwas gewesen. Ich habe damals mit Mateschitz die Verhandlungen geführt unter Klasnic. Ich habe sehr bedauert, dass die 750-Millionen-Euro-Investition in Graz und der Region verhindert worden ist.
Sie wüssten nicht, „was die da tun“, meinten Sie auf eine hinterrücks auf Schwarz-Blau zielende Frage. Wie würden Sie den Filmtitel „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ für unsere Zeit interpretieren?
SCHÜSSEL: Das kann jetzt Vieles sein, die IS in Syrien oder im Irak. Ich hoffe, dass die nicht wissen, was sie tun – und wenn sie es wissen, ist es noch viel schlimmer.
„Offen gesagt“ – ein anderer Buchtitel von Ihnen. Was gehört Ihrer Meinung nach offen gesagt?
SCHÜSSEL: Das war ein Titel des Verlages. Manches wird viel zu schnell und häufig offen gelegt. Ich halte nichts davon, wenn jeder seine Daten etwa unreflektiert ins Netz stellt. Über Alternativen soll es eine offene Diskussion geben, aber es soll auch eine gewisse Vertraulichkeit geben, gerade bei Verhandlungen. Du brauchst eine kluge Balance. Die Merkel etwa hat diese Balance, die lässt sich nicht aus der Ruhe bringen – sie ist ja auch Naturwissenschafterin.
Schweigen ist ein Attribut, das an Ihnen haftet ...
SCHÜSSEL: Das ist lustig! Das Pickerl haben mir ein paar politische Gegner verpasst, obwohl die Faktenlage, die protokollierten Wortmeldungen, völlig anders ist. Aber Hinterherjapsen und in ein Mikrofon beißen, nur damit man vorkommt?!
Worüber aber sollte man tatsächlich schweigen?
SCHÜSSEL: Dazu Wittgenstein: Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.
Schüssel zeichnete einen lachenden Raben, der einem lachenden Stern entgegen fliegt. Ohne Starhilfe. „Für Bettina!“ Lieben Dank.