Der E-Scooter rast um die Ecke, das Auto kommt von rechts. Bremsen quietschen, Blech verbiegt sich, der Scooterfahrer landet auf der Motorhaube, die Autolenkerin im Airbag. Corina Klug spult zurück.
Der Unfall ist so nie passiert. Zumindest auf keiner echten Straße, nur in der virtuellen Welt. Dort nimmt Corina Klug alles ganz genau unter die Lupe. Vom gebrochenen Knochen bis hin zur Dehnung des Gehirns im verletzten Schädel.

Die Zahl der Unfälle mit E-Scootern ist in jüngster Zeit rasant gestiegen. 2021 endeten laut dem Kuratorium für Verkehrssicherheit 2800 Unfälle mit E-Scootern im Krankenhaus – doppelt so viele wie noch im Jahr 2020. Über die Sicherheit des relativ neuen Verkehrsmittels weiß die Forschung noch nicht viel. Das möchte ein junges Team am Institut für Fahrzeugsicherheit der Technischen Universität Graz ändern.

Bei Corina Klug (36), Felix Ressi (35), Desiree Kofler (34) und Christoph Leo (32) dreht sich alles um den "Crash". Das Ziel der Unfallforscherinnen und -forscher: Verkehrsunfälle jeglicher Art verhindern oder zumindest dafür sorgen, dass die Verletzungen nicht so schwer ausfallen. Statt der klassischen sogenannten Crashtests mit echter Puppe (auch Dummy genannt) und echtem Fahrzeug hat sich das Team in die virtuelle Welt verlagert. Auch weil es ressourcenschonender ist, aber vor allem, weil diese Welt mehr Möglichkeiten bietet.

Das Forscherteam an der Technischen Universität Graz: Corina Klug, Felix Ressi, Desiree Kofler und Christoph Leo
Das Forscherteam an der Technischen Universität Graz: Corina Klug, Felix Ressi, Desiree Kofler und Christoph Leo © Fotogenia

Jedes erdenkliche Crash-Szenario möglich

Statt eines Dummys kommen virtuelle Menschmodelle zum Einsatz. "Die sind aufgebaut wie wir. Sie haben Knochen, Knorpel, Bänder, Fleisch, Haut, ein Hirn." Sie bestehen aus Millionen winziger Bausteine, denen unterschiedliche Materialeigenschaften zugeordnet werden, je nachdem, ob der Körperteil weicher oder härter ist. Das Verhalten des Menschen wird auch berücksichtigt. Simulieren die Forscherinnen und Forscher dann den Unfall, rechnet das Programm aus, wann wer wo belastet wird, um abzuschätzen, wie groß das Verletzungsrisiko ist.

Das virtuelle Menschmodell kann die Gestalt einer Person jedes Geschlechts, jedes Alters und jeder Größe annehmen. Im Gegensatz zum Dummy, der meist nur den durchschnittlichen Mann, die kleine Frau und Standard-Kinder abbildet. "Virtuell können wir die Bevölkerung besser darstellen. Wir kommen näher dran an das, was bei Unfällen wirklich passiert", sagt Klug. Frauen stehen zum Beispiel naturgemäß in einer ganz anderen Position auf E-Scootern, verletzen sich also anders als Männer.

Das Menschmodell kann auch beliebig in die Rolle des E-Scooter-Fahrers, des Fußgängers, Radfahrers oder des Autolenkers schlüpfen. Und verschiedenste Szenarien sind möglich: "Es gibt ja nicht nur einen Frontalcrash. Da nehmen wir die Unfallstatistiken und schauen, was sind eigentlich repräsentative Szenarien", sagt Felix Ressi. Sein Spezialgebiet als Unfallforscher sind Fahrzeuginsassen.

Menschmodelle können auch in die Rolle der Insassen schlüpfen
Menschmodelle können auch in die Rolle der Insassen schlüpfen © TU Graz

Für sichere Städte

Schlussendlich muss die virtuelle Forschung auf die reale Straße kommen. Dafür arbeitet man am Institut etwa mit Herstellern und dem Konsumentenschutzprogramm Euro NCAP zusammen. Fahrzeuge, aber auch Schutzausrüstung, Kreuzungen und Städte als Ganzes sollen sicherer werden.

Im Fall der E-Scooter geht es im vom Land Steiermark geförderten Projekt – genannt "SURF" – darum vorherzusagen, wo die Gefahren liegen. Denn eine umfassende Unfallstatistik gibt es für das „junge“ Verkehrsmittel noch nicht. "Es braucht Gesetze und Informationskampagnen, die Sinn machen, die das Unfall- und Verletzungsrisiko minimieren, ohne dass wir warten müssen, bis etwas passiert", sagt Ressi.

Es gilt herauszufinden, welche Geschwindigkeit sicher ist, welcher Helm gut schützen könnte oder ob es sogar einen Airbag braucht. "Die E-Scooter haben überhaupt keine Knautschzone", betont Klug.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Zusammenarbeit mit den steirischen Universitäten, Fachhochschulen, Pädagogischen Hochschulen, Joanneum Research und der steirischen Industrie. Die inhaltliche Verantwortung liegt bei der Redaktion der Kleinen Zeitung.