Neulich waren sie wieder dort. Alfred Stingl und seine Frau Elli sind nach Krungl gefahren, hinauf in den kleinen Sattel, wo Bergwanderer ihre Grimming-Touren beginnen. Sie nahmen Quartier im Gasthof Kanzler, und vom Zimmer aus hat Alfred seiner Frau den Weg durchs steile Schotterfeld gezeigt. Fast wie früher.

„Dreimal sind wir auf dem Grimming gewesen“, sagt Stingl leise. Er sagt es ohne Bitterkeit, obwohl seit fünf Jahren alles anders ist. Wenn er heute mit seiner Frau die Orte ihrer Vergangenheit aufsucht, dann trägt er die Hoffnung in sich, ihr für kurze Momente ein Stück vom alten Glück zu vermitteln. Alfred Stingl war 18 Jahre lang Bürgermeister von Graz, schon damals fiel er auf durch Mitmenschlichkeit, Bescheidenheit, Disziplin. Ein stiller, weiser Mann, der als Sozialreferent um die Nöte und Verwerfungen des Lebens wusste. Doch seine größte Aufgabe stand ihm noch bevor.

Ein Rumpler

Am 20. September 2012 hört er in der Früh einen Rumpler, seine Frau liegt reglos im Bad. Schlaganfall, Notoperation, zwölf Tage Intensivstation, intravenöse Ernährung. Zwei Drittel der linken Gehirnhälfte sind außer Funktion. Elli, die Lebenslustige, die mit ihm die Berge erklomm, den Großvenediger, den Glockner, die Dolomiten, ist fortan ein Pflegefall. Mühsam kann sie manchmal ein paar Schritte gehen, wenn ihr Mann sie stützt.

Ins Heim solle er sie geben, haben dem damals 73-Jährigen alle geraten. Aber das konnte Alfred nicht. Er kennt Elli seit der Jugend, sie besuchten gemeinsam die Gewerkschaftsschule am Südtirolerplatz. Vor 60 Jahren lud er sie zum ersten Mal in die Oper ein. Im September 1960 wurde geheiratet. „Nach so einem gemeinsamen Lebensweg lässt man einen Menschen nicht im Stich“, sagt Alfred, und ein fast schüchternes Lächeln huscht über sein schmales Gesicht.

1800 Spritzen

Im kleinen Reihenhaus mit der steilen Holzstiege ließ er einen Treppenlift einbauen, im Wohnzimmer steht jetzt ein Krankenbett. Er will seine Elli bei sich haben, mitten im Leben. Alfred steht täglich um halb sechs Uhr auf, kümmert sich um Medikamente, Körperpflege, Mobilisierung seiner Frau. Rund 1800 Lovenox-Spritzen hat er ihr im Lauf der Jahre verpasst: „Ich versuche es möglichst ohne Blutvergießen.“

Das Mittagessen kocht Stingl stets frisch, nur die Leberknödel kauft er fertig. Er kocht mit wenig Salz, denn Elli hat Probleme beim Schlucken. „Man muss alles ganz klein schneiden und sehr weich kochen“, erzählt er liebevoll. Einmal wöchentlich schaut eine Pflegerin der Volkshilfe vorbei. Sein Büro hat Stingl ins Wohnzimmer verlegt, auf der Eckbank stapeln sich Bittbriefe. Seit 14 Jahren betreut er für die Zeitung „Woche“ die Hilfsaktion „Von Mensch zu Mensch“, er vermittelt Wohnungen, Möbel, Beihilfen. 800 Interventionsfälle pro Jahr, und Elli immer an seiner Seite.

Für die Verständigung genügen Blicke, Gesten, Berührungen. „Es ist ganz einfach: Wenn es ihr gut geht, dann geht es auch mir besser“, fasst Alfred zusammen. Mit „Es ist ganz einfach“ beginnen viele seiner Sätze. Klagen hört man ihn nicht, Selbstmitleid wäre für ihn „das Schlimmste“. Aber er will kein Aufhebens um sich machen, will nicht als Vorbild herumgereicht werden. Er könne nicht anders handeln: „Liebe hat ihre eigene Gesetzlichkeit.“

Auf dem Tisch stehen Rosen und Nelken, Elli hat gerade den 80. Geburtstag gefeiert, ihr Zustand ist unverändert. Alfred serviert Kaffee und sagt: „Es gibt keine Neuigkeiten, was uns beide betrifft.“

Erfolge werden nach anderen Maßstäben erzählt

Aber was sind schon Neuigkeiten? Der Resonanzraum des Lebens hat sich verschoben, Erfolge werden hier nach anderen Maßstäben gezählt. Wenn Elli plötzlich nach Alfreds Hand greift oder sich anschmiegt, dann ist es ein guter Tag. In Salzburg schob er im Vorjahr den Rollstuhl durch die Altstadt, da zuckte Ellis Hand. „Sie hat das Festspielhaus wiedererkannt. Das war ein schönes Erlebnis.“

An den Wänden hängen bunte Bilder mit abstrakten Motiven – gemalt von Elli in der Ergotherapie. Das sind die kleinen Wunder, auf die es jetzt ankommt. Auch Musik sei ein Heilfaktor. Kürzlich besuchten sie das Adventkonzert in der Grazer Oper, es war fast wie vor 60 Jahren. Auch in den Musikverein gehen sie oft, und auch dort ist es „ganz einfach“: „Ich habe einen Eckplatz. Wenn alle sitzen, dann ziehe ich ihren Rollstuhl zu mir.“

Der bald 79-Jährige schmiedet unverdrossen Reisepläne, er will weitermachen, solange er kann. Nächsten Sommer wollen sie nach Bad Ischl – „das wäre der Plan“. Dann hält Alfred Stingl unvermittelt inne, ein Schatten der Unsicherheit fällt in sein Gesicht. Er streichelt seiner Frau zärtlich über die Wange und murmelt: „Im Grunde hat man jeden Tag Angst.“