Fünfmal Erster, einmal Zweiter, einmal Dritter, einmal Neunter – so lautete die beeindruckende Bilanz von Stefan Kraft nach den ersten acht Saisonbewerben. Zum Auftakt der 72. Vierschanzentournee setzte der Österreicher in Oberstdorf erneut auf dem Podest auf, diesmal wurde es hinter Andreas Wellinger und Ryoyu Kobayashi ein dritter Platz. „Natürlich bin ich damit zufrieden. Man muss schon am Boden bleiben. Meine Sprünge waren sehr gut, aber für den Sieg hätte es eben zwei richtig, richtig gute gebraucht“, betrachtete der Salzburger den Wettkampf im Oberallgäu im Rückspiegel. Der Rückstand auf den führenden Deutschen beträgt 10,4 Punkte – das sind umgerechnet 5,7 Punkte. „Ein Rückstand ist nie gut, aber es ist noch nicht die Welt. Es kann sehr schnell gehen, wie man in Oberstdorf gesehen hat.“

Weiter geht es am Sonntag (14 Uhr, ORF 1 live) mit der Qualifikation in Garmisch, am Montag (14 Uhr) folgt das Neujahrsspringen auf dem Olympia-Bakken. Eine Schanze, mit der Kraft in der Vergangenheit seine liebe Not hatte. 2023 reichte es nur für den 18. Platz, 2022 scheiterte der dreifache Einzel-Weltmeister als 59. sogar in der Qualifikation! Es war der absolute Tournee-Tiefpunkt für den Pongauer. 2020 landete er auf Platz 13, 2019 (49.!) und 2018 (31.) flog der Salzburger am Finale der besten 30 vorbei. Und 2014/15, als Kraft als bis dato letzter Österreicher die Tournee gewinnen konnte, leistete er sich (natürlich) in Garmisch mit Platz sechs den einzigen Ausreißer.

Ein heikles Thema

Die Vermutung, dass ihm der Bakken vom Anlauf, dem Schanzentisch oder der Neigung her nicht liegen würde, will der 35-fache Weltcupsieger nicht bestätigen. „Neben dem Bergisel und Bischofshofen ist es die Schanze, auf der wir über das Jahr gesehen die meisten Trainingssprünge absolvieren. Und im Training springe ich dort immer gut.“ Bleibt als mögliche Ursache für Krafts chronischen Tiefflug in der Olympiagemeinde nur noch der mentale Bereich. Entsprechend heikel ist es auch, den Österreicher auf Garmisch anzusprechen, ruft man bei ihm damit doch unweigerlich die vergangenen Miseren in Erinnerung. Doch der Salzburger winkt mit einer überzeugenden Lässigkeit ab: „Ich befinde mich derzeit im Flow – und da springt man auf jeder Schanze gut.“ Schmunzelnder Nachsatz: „Vielleicht ist Silvester das Problem. Da bin ich in den letzten Jahren immer braver geworden. Vielleicht sollte ich heuer wieder einmal richtig feiern.“

Fakt bleibt, dass im Skispringen zum Großteil der Kopf über Freud und Leid im Auslauf entscheidet. Kraft zählt zu den wenigen Ausnahmen dieser äußerst komplexen Sportart, die sich über ein Jahrzehnt in der absoluten Weltspitze halten können. Und die mentale Stärke ist es auch, die über den Tourneesieg entscheidet. „Die psychische Belastung ist weit höher als die physische. Vor allem durch die Medien und den Druck, der auf einem lastet, wenn man vorne dabei ist“, bestätigt Thomas Morgenstern in einem Interview mit der Münchner Abendzeitung.

Viren in der Luft

Will man die Tournee gewinnen, benötigt es neben technischem Können und einem starken Kopf aber noch weitere Faktoren wie etwa die Gesundheit. Davon kann Kraft schon einige Lieder singen. Im Vorjahr reiste der ÖSV-Adler kränkelnd nach Oberstdorf an, 2019/20 hatten er und Zimmerkollege Michael Hayböck vor Garmisch eine schwere Erkältung ausgefasst. 2017 warf das Duo vor dem Springen in Innsbruck ein Magen-Darm-Virus aus allen Tournee-Träumen. Nach gewonnener Qualifikation wurde der geschwächte Kraft damals am Bergisel nur enttäuschter 18.

Und neben all diesen Hürden, die es auf dem Weg zum „Goldenen Adler“ zu meistern gilt, spielt auch noch das Wetter eine tragende Rolle. Eine kurze Böe im falschen Moment aus der falschen Richtung hat schon so manchen Tourneefavoriten abschmieren lassen. Da können auch die Kompensationspunkte, die im Gegensatz zur Vergangenheit vom Wind geprägte Bewerbe zumindest ein bisschen fairer gestalten, nichts mehr retten. In Oberstdorf waren die Österreicher von den Bedingungen her nicht auf der glücklichsten Seite, in Garmisch darf es für die ÖSV-Adler dafür nun zusätzlichen Aufwind geben.