Es war alles andere als leicht für Michelle Gisin. Am Sonntag war ihr Bruder Marc in der Abfahrt der Herren auf der Saslong bei den Kamelbuckeln schwer gestürzt, man befürchtete das Schlimmste. Und schon am Dienstag musste die 25-Jährige auf derselben Piste ins Abfahrtstraining. Und im Rennen fuhr sie schließlich auf den 18. Platz. Doch das war an diesem Tag fast nebensächlich.

"Es war extrem schwierig gestern", bekannte die Olympiasiegerin danach erstaunlich offen im Interview, "schon bei der Besichtigung. Hier zu sein, das alles zu sehen ist unschön. Da ist das Runterfahren im ersten Moment fast schöner." Am Nachmittag, nach zwei Trainings, war sie am Schwanken. "Da musste alles einmal  raus. Ich hatte mich am Vormittag sehr zusammengerissen, aber irgendwann kommt es dann hoch. . ."

Die Versöhnung

Sie sei ein Mensch, der "mit Freude Ski fahre", so viele Rennen bestreite, weil es ihr "so viel Spaß macht". Aber: "In diesem Moment ist der Spaß bei Minus 100.000, die Freude sehr gering." Warum sie dann hier ist? "Weil mir Marc mir sowieso sagen würde, dass ich mich zusammenreißen soll, es geht schon."  Und das versucht sie nun auch. "Ich will das Beste daraus machen und versuche, die Familie ein bisschen mit der Piste zu versöhnen. Soweit das möglich ist. . ."

Und dann erzählte Gisin auch, wie es ihrem Bruder geht: "Die Details bleiben in der Familie. Aber was wir sagen können: Er ist sehr stabil, es geht ihm besser. Ich habe gestern sehr lange mit seiner Freundin und Mama und Papa telefoniert. Er ist sehr ruhig, sie denken, dass er langsam versteht, was abgeht, was passiert ist. Klar, er hat eine schwere Gehirnerschütterung. Aber es ist nicht so schlimm und gravierend wie damals nach Kitzbühel (Gisin stürzte da 2015 schwer auf der Hausbergkante und hatte ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten, Anm.). Deshalb hoffen wir das Beste."

Was sie noch sagte: "Der Rest wird verheilen. Sicher, es wird dauern und es wird sicher schmerzhaft sein. Aber es sieht alles sehr viel besser aus, als wir im ersten Moment dachten und denken mussten. Wir denken an ihn, wünschen ihm das beste, dann wird es sicher schneller heilen."

Auch ein Abschwingen wäre möglich gewesen

Sie selbst habe sich auch im Rennen immer die Möglichkeit gehabt, aufzuhören, abzuschwingen. "Es war klar, dass, wenn ich spüre, es geht einfach nicht, raus fahre. Ich bringe ihm aber nichts, wenn ich neben ihm sitze und Däumchen drehe", betonte sie und fügte noch einmal an: "Es war sehr schwer. Die Option, nicht zu fahren, war immer da. Ich wusste, ich kann immer aufhören, bin aber froh, gefahren zu sein – Ich sehe es eben als Versöhnung an."