Selbst bei einem seiner zahlreichen Kinderrennen ging Benni Raich forscher zu Werke. Um fünf Uhr morgens, als sich noch der Mond am 3200 m hoch gelegenen Tiefenbachferner spiegelte und der Pitztaler den ganzen Hang allein für sich beanspruchen durfte, spielte zunächst, bei der ersten Schi-Ausfahrt seit seiner schweren Knieverletzung bei der Schi-WM in Garmisch-Partenkirchen im Februar, nämlich noch die Unsicherheit mit. Kaum vorstellbar, dass er in den 15 Weltcup-Saisonen bislang zu einem Journalisten ernsthaft das gesagt hat, was er dann meinte: "Ich begann mit leichtem Abrutschen. Dann folgte ein Linksschwung, dann ein Rechtsschwung." Zu banal, zu einfach - aber wahr. Der Doppel-Olympiasieger von 2006 stand für eine Fahrt am Anfang, um sich schnell wieder im Schifahrer-ABC nach vorne zu tasten. "Ich fühlte mich wie ein Adler, der das Fliegen neu erlernt. Er weiß, dass er es kann, nur sicher ist er sich nicht."

Als gegen 7.30 Uhr eine Handvoll Journalisten den Anfängerhügel frequentierten, war der Adler bereits flügge, kurvte Raich schon in bester Raich-Manier den kargen Gletscherstrich hinunter. Der Hunger war wieder da, der alte Benni Raich auch. Oder hat sich 184 Tage, gut 100 Therapiestunden und zwei zwischenzeitlich gelesene Bücher nach der Verletzung etwas am System Raich geändert? "Nein", meinte sein Servicemann Robert Bürgler, der sich zur Feier des Tages auf dem Tiefenbachferner einfand. "Ganz der Alte", staunte auch Robert Weber, Raichs Physiotherapeut. "Ihm ist alles zuzutrauen", pflichtete Cheftrainer Mathias Berthold bei. Papa Alois Raich ließ sich zu keiner Aussage hinreißen. Die Vehemenz, mit der er allerdings den Skidoo Richtung Anhöhe pilotierte, ließ keine Rücksicht mit dem eben noch verletzen Junior erkennen. So (ver)fährt kein Vater, der sich seines Sohnes nicht sicher ist.

Ob er dazu gelernt hat, der Benni Raich? Genauso gut könnte man Michael Schumacher fragen, ob er noch einmal Formel-1-Weltmeister werden wolle. "Man entwickelt sich immer weiter", grinste Raich. Möglicherweise sei er ja der stärkste Benni Raich aller Zeiten. Doch der Weg zum Erfolg führte in diesem Fall nicht über überfallsartigem Training, sondern über Geduld: "Hätte ich es mit der Brechstange versucht, wäre ich schon vor zwei Monaten auf Schi gestanden." Eine Weisheit, die den jungen Benni Raich vom erfahrenen möglicherweise unterscheidet. Und deshalb lässt sich der Pitztaler auch nicht zu einer Antwort hinreißen, ob er beim Weltcup-Auftakt in Sölden (23. Oktober) mit von der Partie sei: "Diese Frage kann ich nicht beantworten."

Viel lieber zog er einen Vergleich zu seiner Freundin Marlies Schild, die nach schwerer Verletzung ebenfalls wieder in die Spur kam: "Es wäre toll, würde mir das auch so gut gelingen wie ihr." Am Mittwoch zog er seine Schwünge auf einem knapp 30 Prozent steilen Hang. Der daneben zum Saisonstart ist 62 Prozent steil. Noch fehlen ihm selbst einige Prozent, das weiß er. Und deshalb klingelt am Donnerstag, punkt 3.30 Uhr, wieder der Wecker - Abfahrt zum Tiefenbachferner ins Ötztal. Diesmal aber ohne Rutschen.