Was ist passiert und wie ist die Saison einzuschätzen?

Nicht wenige hatten den Raptors ein ähnliches Schicksal wie den Dallas Mavericks 2011 vorhergesagt, nicht zuletzt weil mit Kawhi Leonard und Danny Green zwei Stützen aus dem Meisterteam wegbrachen. Es gab Spekulationen über Trades von Kyle Lowry, Marc Gasol oder Serge Ibaka, von Neuaufbau war die Rede.

Doch die Raptors entpuppten sich als würdiger Titelverteidiger, auch wenn die Conference Finals denkbar knapp verpasst wurden. Toronto hatte eine bessere Siegquote als in der Meistersaison und brachte auch das in der Spitze talentiertere Team der Boston Celtics an den Rand einer Niederlage.

Dieses siebte Spiel zeigte noch einmal, aus welchem Holz die Kanadier geschnitzt waren. Knapp fünf Minuten vor dem Ende lagen die Raptors noch mit zehn Zählern hinten, um dann mit erstickender Defense zurück ins Spiel zu kommen. Zum Schluss fehlte aber offensiv die Qualität, ohne den ausgefoulten Kyle Lowry mühte sich Fred VanVleet ab, ohne aber einen guten Wurf zu erspielen.

Raptors vs. Celtics: Die Serie im Überblick

Spiel Datum Uhrzeit Team 1 Team 2 Ergebnis 1 30. August 19 Uhr Toronto Raptors Boston Celtics94:112 2 1. September 23.30 Uhr Toronto Raptors Boston Celtics99:102 3 4. September 0.30 Uhr Boston Celtics Toronto Raptors103:104 4 6. September 0.30 Uhr Boston Celtics Toronto Raptors93:100 5 8. September 0.30 Uhr Toronto Raptors Boston Celtics89:111 6 10. September 0.30 Uhr Boston Celtics Toronto Raptors122:125 2OT 7 12. September 3 Uhr Toronto Raptors Boston Celtics87:92Twitter

Dennoch zeigte sich der Gegner beeindruckt: "Wir haben gegen ein großartiges Raptors-Team gespielt", befand zum Beispiel Marcus Smart. Es war nicht nur er, Toronto hat sich den Respekt der kompletten NBA erspielt, weil sie eben so unangenehm zu bespielen waren.

Fast schon folgerichtig wurde Nick Nurse mit dem Award des Coach of the Year belohnt. Box-and-One, diverse Zonenverteidigung, ständig wechselnde Systeme - Nurse presste aus seinem hochintelligenten Team ohne große Individualkönner das Maximum heraus - und da darf auch ein knappes Zweitrundenaus als Erfolg gewertet werden, auch wenn die Enttäuschung natürlich groß ist.

Nurse wollte dennoch vor allem das Positive hervorheben: "Wir sollten alle sehr stolz sein", betonte der Coach of the Year. "Wir haben die Stadt, das Land und die Organisation sehr gut repräsentiert. Wenn man dieses Team jeden Abend sieht, dann bleibt einem nichts anderes zu sagen, als dass sie alles gegeben haben - egal ob bei Sieg, Niederlage oder Unentschieden. Das ist ein ganz besonderes Team."

Ist Kyle Lowry ein Hall of Famer?

An der Spitze dieser Gemeinschaft stand natürlich Lowry, der durch starke Playoffs seinen Status als Mr. Raptor noch einmal zementiert hat. Über Jahre war der kleine Point Guard als Playoff-Choker verschrien, selbst beim Champion-Run wurde Lowry nach dem ersten Playoff-Spiel angezählt, als er bei der Auftaktniederlage gegen die Orlando Magic alle seine sieben Würfe vergab und nicht einen einzigen Punkt erzielte.

Ein starkes Spiel 6 in den Finals sowie dieser Playoff-Run haben das Narrativ zu Lowry komplett verändert. Inzwischen ist sogar die Diskussion aufgebrandet, ob der inzwischen 34-Jährige nicht womöglich sogar ein kommender Hall of Famer ist. Die Frage ist berechtigt und Lowry dürfte ein sehr interessanter Fall werden, wenn es darum geht, ob er später mal auf der Bühne in Springfield stehen wird.

Der Mann aus Philadelphia war in der NBA ein klassischer Spätstarter, dessen Einstellung zu Beginn seiner Karriere mehrfach angezweifelt wurde (heutzutage unvorstellbar). In seinen ersten beiden Jahren war er in Memphis nur der Backup von Mike Conley, bevor er in seiner zweiten Saison in Houston endlich Starter wurde. Seinen endgültigen Durchbruch verlebte der inzwischen 34-Jährige aber erst in Toronto, wo er nun seit acht Jahren die Fäden zieht.

Die nackten Zahlen springen mit durchschnittlich 17,6 Punkten und 7,1 Assists nur bedingt heraus, doch Lowrys Spiel definierte sich nie darüber, sondern eben über die vielen kleinen Dinge. Ein Charge hier, ein schneller Einwurf, der den Gegner überrascht, da - Lowry ist mit allen Wassern gewaschen und liefert die sogenannten "Winning Plays", die eben nicht im Boxscore erscheinen.

Kyle Lowry: Torontos Mr. Big Shot

Inzwischen wurde der Guard sechsmal in Folge zum All-Star ernannt, erstmals erst mit 28 Jahren! Nur zwei Spieler sind übrigens nicht in Springfield, die mindestens sechs Nominierungen auf der Habenseite stehen haben: Larry Foust (8), ein weißer Center aus den 50ern, sowie Chris Bosh, der es 2020 wohl aufgrund der vielleicht besten Hall of Fame-Klasse aller Zeiten (Kobe Bryant, Tim Duncan, Kevin Garnett) nicht im ersten Anlauf schaffte.

Nun sollte man aber vorsichtig mit All-Star-Teilnahmen sein, erst recht, weil Lowry dies im Osten tat, wo die Dichte an hochklassigen Guards um einiges niedrigen als im Westen ist. Es ist kein Zufall, dass zum Beispiel Mike Conley oder Jrue Holiday (war einmal East-All-Star) nie berücksichtigt wurden.

Was beide (bislang) aber noch nicht vorweisen können, ist ein Ring. Diesen hat Lowry sich verdient und agierte dabei als zweitbester Spieler. Dies muss aber nichts heißen und dafür gibt es auch schockierende Parallelen zu einem anderen Spätzünder - Chauncey Billups.

Dieser schaffte nach einigen Jahren Wanderschaft in Detroit den Durchbruch und wurde beim Titel 2004 sogar Finals-MVP, dennoch wartet Mr. Big Shot weiter auf seine Aufnahme. Er sammelte im Anschluss noch fünf All-Star-Teilnahmen sowie drei All-NBA-Nominiereungen (1x Second, 2x Third).

Seine Karriere-Statistiken sind übrigens mit durchschnittlich 15 Punkte und 5,4 Assists fast deckungsgleich mit denen von Lowry. Stand jetzt dürfte es für die lebende Raptors-Legende knapp werden, auch wenn der Wahrscheinlichkeitsrechner von basketball-reference.com die Chancen auf 85,7 Prozent beziffert (Billups: 84,4). Hall of Fame oder nicht: In Toronto ist Lowry schon jetzt unsterblich.

Können die Raptors mit Siakam als Star ein Contender sein?

Davon ist Pascal Siakam noch ein gutes Stück entfernt. Der Forward spielte gegen die Celtics eine Albtraum-Serie und legte durchschnittlich gerade einmal 14,9 Punkte und 7,4 Rebounds bei katastrophalen 38,2 Prozent aus dem Feld auf. Noch im vergangenen Jahr war Siakam als Most Improved Player der Shooting-Star der NBA, in der Bubble konnte Siakam aber nie an seine Leistungen der Vormonate anknüpfen.

"Ich war nicht in der Lage, meinen Teamkollegen zu helfen. Ich nehme einen großen Teil der Schuld auf mich" , rechnete Siakam mit sich selbst nach Spiel 7 ab. "Ich habe immer hart gearbeitet und mich durchgeschlagen, was auch immer mir im Weg lag", so der Kameruner. "Ich sollte gar nicht in dieser Liga sein, aber ich habe mich hierher gekämpft und bewiesen, dass ich hierher gehöre. Das wird der nächste Schritt für mich sein."

Trost und Rat wird der Kameruner bei Lowry finden, der ebenfalls zahlreiche Rückschläge in den Playoffs erleiden musste. "Als wir von den Wizards gesweept wurden (2015, Anm. d. Red.), habe ich jeden einzelnen Artikel gelesen. Ich habe alles gelesen, was über mich geschrieben wurde, das Gute, das Schlechte, das Bösartige und das Tolle. Ich habe es als Motivation genutzt. Und das wird er auch so machen."

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Pascal Siakam: Kommt der nächste Leistungssprung?

Laut Lowry sei die Celtics-Serie eine gute Lektion für den 26-Jährigen gewesen. Und das ist durchaus möglich. Nicht jedes Team besitzt so viele Waffen in der Verteidigung wie Boston, die Siakams Post-Spiel fast komplett eliminierten. Auch seine Drives wurden geschickt weggenommen, hier ist das Ballhandling noch nicht so ausgereift wie es sein sollte. Das schränkte Siakam enorm ein, nicht zuletzt weil der Forward auch nicht einmal 20 Prozent von der Dreierlinie warf.

Toronto hat dennoch weiter Vertrauen in den Afrikaner, dessen Vertrag bereits in der abgelaufenen Saison um vier Jahre und rund 130 Millionen Dollar verlängert wurde. Das ist eine Menge Holz, aber die Raptors besitzen genug Flexibilität, um sich das leisten zu können.

Für den Moment scheint es jedoch nicht so, als ob Siakam jemals der beste Spieler bei einem Titel-Kandidaten sein kann. Sein Spiel lebt noch zu sehr von seinem schnellen Umschaltspiel, welches in den Playoffs - wie gesehen - von den besten Teams eingeschränkt werden kann.

Siakam muss und wird in dieser Offseason weiter hart an sich arbeiten, um die nötigen Schritte in der Halbfeld-Offensive zu machen. Das glaubt übrigens auch Lowry, der nach der Niederlage folgendes sagte: "Ich wäre nicht überrascht, wenn er noch hungriger zurückkommt und seine Gegner zerstört."

Was bekommt Fred VanVleet in seiner Free Agency?

Ob dann Fred VanVleet noch im Kader steht? Der 26-Jährige wird nun Free Agent und zählt nach einer überragenden Saison, die ihn sogar zu einem Kandidaten für das All-Star Game machte, zu einem der besten verfügbaren Spieler auf dem freien Markt. VanVleet hat sich einen Namen als einer der besten Defensiv-Guards der Liga gemacht, der gleichzeitig auch als Spielmacher fungieren kann sowie über einen guten Dreier verfügt.

Das war so nicht zu erwarten, als die Raptors den Guard, welcher 2016 nicht gedraftet wurde, mit einem Zweijahresvertrag ausstatteten, der ihm gerade einmal 50.000 Dollar für die Saison (!) garantierte. Nun könnte es sein, dass der Durchstarter über 20 Millionen im Jahr abräumen wird, wie einige GMs schon während der Saison vermuteten. Man kann es ein wenig mit Malcolm Brogdon vergleichen, welchen die Milwaukee Bucks in der vergangenen Offseason nicht mehr bezahlen wollten. Die Indiana Pacers taten es (4 Jahre, 85 Millionen) und haben es bisher sicherlich nicht bereut.

Die Frage wird sein, wer dieses Geld zahlen wird. Vor einigen Wochen berichtete Shams Charania, dass sich neben Toronto auch die New York Knicks sowie die Detroit Pistons mit VanVleet beschäftigen würden. Beide Teams hätten das nötige Kleingeld und auch einen Bedarf auf der Spielmacher-Position.

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Doch kann VanVleet ein Team auch anführen? In Toronto passte er neben Lowry als sekundärer Ballhandler perfekt ins System. Es ist zumindest anzuzweifeln, ob er offensiv eine noch größere Last schultern kann. Gegen Boston hatte VanVleet Probleme, in der Zone abzuschließen und war etwas zu sehr abhängig von seinem (starken) Wurf.

In Toronto genießt VanVleet aber ein hohes Standing, weswegen ein Verbleib wahrscheinlich erscheint. Die Frage nach der Zahl im Vertrag wird aber spannend sein. 20 Millionen pro Jahr sollten für Toronto noch machbar sein, alles darüber hinaus könnte ob der Pläne für die Zukunft dagegen kritisch werden ...

Können die Raptors ins Wettbieten um Giannis Antetokounmpo einsteigen?

Denn: Es ist ein offenes Geheimnis in der Liga, dass sich Toronto - wie auch Miami - so viel Flexibilität wie möglich für 2021 beibehalten will, um den Liga-MVP ins Team zu locken. Und die Raptors sind darauf bestens vorbereitet, auch wenn der Salary Cap nun wohl geringer als die anvisierten 125 Millionen Dollar ausfallen wird.

Denn Stand jetzt haben die Raptors für die Saison 2021/22 nur drei Spieler unter Vertrag: Siakam, Norman Powell (Spieler-Option) sowie Rookie Dewan Hernandez. Alleine in dieser Offseason laufen die Verträge von Marc Gasol, Serge Ibaka, VanVleet und Chris Boucher (RFA) aus.

Das Interesse mit VanVleet zu verlängern, ist bekannt. Auch Ibaka (31) würden die Kanadier sicher gerne halten, durch seine guten Vorstellungen in den Playoffs könnte der Big Man womöglich zu teuer werden. Anders verhält es sich bei Gasol. Der Spanier sah mit seinen 35 Jahren gegen Boston oft alt aus und wurde in Spiel 7 fast vom Feld gespielt.

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Mit seiner Intelligenz an beiden Enden kann er sicherlich noch ein Jahr helfen, womöglich auch zu einem deutlich günstigeren Deal als die 25 Millionen, die er diese Saison kassierte. Ein Vertrag über ein weiteres Jahr würde Sinn ergeben, um weiter alle Möglichkeiten für 2021 zu haben. Dies ist das nächste Ziel, darauf hat Präsident Masai Ujiri alles ausgerichtet, das deutete bereits die Verlängerung von Lowry über ein Jahr (30 Mio.) in der abgelaufenen Saison an.

Die Raptors werden vermutlich auch im kommenden Jahr eine schlagfertige Truppe stellen, auch um Free Agents zu zeigen, dass Toronto tatsächlich eine Franchise ist, die jährlich um Titel spielen will und auch kann. Dazu könnte der Kader mit ein paar Einjahresverträgen aufgefüllt werden, um auf jeden Fall die rund 35 Millionen Dollar Cap Space für den Griechen im kommenden Sommer zur Verfügung zu haben.