Analysieren, interpretieren, einordnen und nach vorne schauen – Anna Kiesenhofer kann das. Freilich hat sie die hauchdünne Niederlage im Zeitfahren gegen Christina Schweinberger kurz geärgert. Wen wundert’s, immerhin wäre es der vierte Titel in Serie gewesen. Kiesenhofer war mit ihrer Leistung dennoch zufrieden und so wird sie heute nicht mit Wut im Bauch oder gar mit der berühmten Brechstange ins Rennen gehen. „Das hat mir keine zusätzliche Motivation gegeben. Das geht gar nicht, da ich ohnehin zu 100 Prozent auf Judendorf konzentriert bin“, erzählt die Olympiasiegerin.

Seit mehr als einer Woche ist Kiesenhofer in Graz und trainiert auf der Rennstrecke, kennt jeden Millimeter Asphalt. Um 11.15 Uhr starten die Damen – die Herren (Start 10 Uhr) haben da schon einige Kilometer auf dem Rundkurs (siehe Box) heruntergespult.

Hier: Das Interview mit Anna Kiesenhofer nach Olympia 

Der Titel hat eine neue, starke Strahlkraft für Kiesenhofer. „Dieses Mal hat die Meisterschaft einen recht hohen Wert für mich. Ich weiß gar nicht, warum. Manchmal hat man Ziele einfach plötzlich im Kopf. Und ich habe jetzt das: Ich will dieses Trikot haben.“ Die Pläne sind geschmiedet. Die Kolleginnen von „Cookina Graz“ – Lokalmatadorin Sarah Bärnthaler ist eine heiße Aktie für den U23-Titel – stehen ihr zur Seite, die Familie am Streckenrand.

Die Liebsten werden gut positioniert im Luttengraben, wo Kiesenhofer wohl auf einer der fünf Runden die Entscheidung suchen wird. Die Rampe hinauf zum Schloss Plankenwarth hat schon so manchem den Stecker gezogen. Eine Fahrt wie bei ihrem Olympia-Coup wird die Konkurrenz zu verhindern wissen. „Die Wahrscheinlichkeit, dass ich unbemerkt wegkomme wie in Tokio, ist relativ gering“, sagt sie und lacht. Nach den Spielen im Land der aufgehenden Sonne haben sich für die Niederösterreicherin Türen geöffnet – und sie hat sie durchschritten. „Nach Tokio habe ich mir die Frage gestellt: Warum soll ich noch trainieren, was ist mein Ziel? Es hat sich von selbst ergeben, denn es ist die Lust am Sport zurückgekommen und damit auch der Ehrgeiz.“
Sie hat den Job als Mathematikerin auf der École polytechnique fédérale de Lausanne sein lassen und wurde Profi. Gold öffnete Türen – auch finanzielle. „Immer wenn man irgendwas will im Leben, muss man darum kämpfen. Das ist auch bei guten Sponsoren so.“ Den gleißenden Schein des Rampenlichts nimmt sie mittlerweile gelassen. „Was für mich immer ein bisschen komisch ist, ist die Diskrepanz. Ich habe jahrelang schon sehr viel für den Sport gearbeitet und es hat niemanden gekümmert. Und dann fährt man so einen großen Sieg ein, mit gar nicht so einem anderen Ansatz, und plötzlich bekommt man so viel mehr.“ Auch die Aufmerksamkeit der Fans ist drastisch gestiegen. „Es ist natürlich ein bisschen Druck. Aber ich denke, dass ich das auch sehr gut wegblenden kann und es beeinflusst mich auch nicht. Ich fahre so gut, wie ich kann – egal ob die Leute schauen oder nicht.“

Kiesenhofer geht ihren eigenen Weg, ist Frau ihrer Entscheidungen und daher plant sie auch ihr Training selbst. Dabei schenkt sie sich aber nichts, erzählt sie mit einem Lachen: „Es ist mehr die Gefahr, dass man zu hart zu sich ist. Ich trainiere auch meinen Freund und oft bin ich zu ihm netter als zu mir selbst.“