Die Stille war anders. Sie hatte etwas Unheimliches. Annika (Name von der Redaktion geändert) war gefangen, sie konnte sich nicht mehr bewegen. Mit einem Schlag ist es dunkel geworden. Sie spürte harten, gepressten Schnee auf ihren Wangen. Das Atmen fiel ihr schwer. "Hilfe. Das gibt es doch nicht. Was ist da gerade passiert?", schoss ihr im ersten Moment durch den Kopf.

Annika ist ehemalige Spitzensportlerin. Sie hat nationale und internationale Erfolge vorzuweisen. Und wie viele hat sie es immer gehasst, in Situationen zu geraten, die sie nicht kontrollieren kann. Vor einigen Jahren entdeckte sie Skitouren für sich. Sport in der unberührten Natur - das gefiel ihr. "Mich faszinieren die Berge. Aber ich würde mich als risikoavers bezeichnen", erklärt sie. Jedes Jahr nimmt sie an Lawinen-Ausbildungen teil. LVS (Lawinen-Verschütteten-System) und Lawinenausrüstung sind für sie eine Selbstverständlichkeit. Sie trägt einen Rucksack mit Airbag, selbst wenn die Routen dies gar nicht unbedingt erfordern. Und: Sie ist nie alleine unterwegs.

Dieses Mal nahm sie in Oberkärnten an einer mehrtägigen und geführten Skitour teil. Die Gruppe umfasste elf Personen. "Die Bedingungen waren mies. Es war die ganze Nacht davor total stürmisch und es herrschte schlechte Sicht. Wir haben uns für die leichteste, vermeintlich ungefährlichste Tour entschieden. Es hatte Lawinenwarnstufe 3 geherrscht." Davon ließ sich die Gruppe nicht abbringen.

"Ich habe mich nicht wohlgefühlt"

Unterwegs im Astner Tal (ein Seitental des Mölltals) wich man vom geplanten Weg ab. Über das Kluidtörl hätte die Route auf den Mohar führen sollen. "Die Sicht war schlecht und wir haben uns beim Spuren abgewechselt. Vor der Stelle, wo es passiert ist, haben wir uns beraten, wollten Abstand halten. Ich habe mich irgendwie nicht ganz wohlgefühlt, konnte das aber nicht genau deuten." Erst da hat Annika den Griff für den Airbag geöffnet.

Sie ging los. "Plötzlich hat sich der Boden unter meinen Skiern zu bewegen begonnen. Es hat im ersten Moment überhaupt nicht dramatisch gewirkt." Die Gruppe befand sich am unteren Ende eines Hanges mit maximalem Gefälle von 30 Grad. Was Annika nicht bewusst war: Bei Warnstufe 3 aufgrund von Trieb- oder Altschneeproblem genügt eine kleine Zusatzbelastung, um ein Schneebrett auszulösen. Und: Es kann auf jeder Position eines Hanges ausgelöst werden.

Die Kärntnerin zog an ihrem Lawinenrucksack, löste den Airbag aus. Sie verhedderte sich aber mit ihren Skiern bei einem Stacheldrahtzaun. Dies wirkte wie ein Anker, sie wurde nach unten gezogen. "Ich fiel hin und hatte keine Chance mehr, zu reagieren. Es ging alles relativ schnell." Der Ballon des Airbags sorgte glücklicherweise für eine Atemhöhle. Nach ein paar Sekunden stoppte der Schnee. "Und ich war wie einbetoniert.  Dieses Gefühl werde ich nie mehr vergessen."

Kopfkino und Verzweiflung

Die Zeit lief. Ihre Atemhöhle beruhigte Annika etwas, sie bekam Luft. Und auch ansonsten schien sie verletzungsfrei geblieben zu sein. Aber das Kopfkino begann. Mit jeder Sekunde, die sich wie eine Ewigkeit angefühlt hatte, ein wenig mehr. Angst kroch hoch. Sie zitterte um ihr Leben: "Was ist, wenn alle anderen auch verschüttet sind und niemand nach mir suchen kann?" Die 25-Jährige schrie aus voller Verzweiflung: "Hilfe!"

Das Tracking zur Skiroute
Das Tracking zur Skiroute © KK/Privat

Was Annika nicht wusste: Draußen lief längst die Kameraden-Rettung an, ein Hubschrauber stand aufgrund des Windes nicht zur Debatte. Auf die quälende Stille folgte ein erlösendes Knirschen und Kratzen. Eine Person grub nach ihr. "Ich war so froh. Später lag ich noch im Schnee und musste weinen. Niemals wäre ich alleine da rausgekommen." Lediglich 15 Zentimeter lag ihr Kopf unter der Oberfläche. Ihr Bein hatte sich mit der Skischuhschnalle beim Zaun verfangen. "Das war in etwa eineinhalb Metern Tiefe. Der Schnee war wie Beton. Bis ich völlig draußen war, hatte es schon eine Zeit lang gedauert."

Erst viel später wurde ihr bewusst, dass sich die gesamte Gruppe in akuter Todesgefahr befunden hatte. Es war kein theoretischer Teil eines Lawinentrainings mehr, sondern brutale Realität. "Von elf Tourmitgliedern wurden sechs verschüttet. Eine einzige Person schaffte es, sich selbst zu befreien. Die anderen mussten freigegraben werden. Wir hatten alle extremes Glück." Am gesamten Hang haben sich insgesamt vier Schneebretter gelöst. Was selten geschieht: Alle Verschütteten haben die Situation unbeschadet überstanden. 

Vorwürfe an sich selbst

Annikas Leben hing an einem seidenen Faden. Die Gruppe arbeitete die Erlebnisse gemeinsam auf. "Mir ging es danach psychisch wirklich schlecht." Sie machte sich Vorwürfe. Wegen der erheblichen Lawinengefahr, die geherrscht hatte. Wegen des Triebschnee-Problems. Wegen der schlechten Sicht. Und weil alle wichtigen Anzeichen einen Stopp-Faktor dargestellt hatten.

Die 25-Jährige wird nachdenklich. Sie erwähnt etwas nicht Unwesentliches: Den Instagram-Effekt. "Jeder stellt seine Fotos rein. Viele sind leichtfertig. Das Gelände muss immer steiler sein, der Pulver immer tiefer." Das betrifft auch die jüngsten, tödlichen Lawinen-Unfälle: "Den Leuten fehlt das Risikobewusstsein. Jene, die es gedankenlos posten, aber auch denen, die es sehen und nachahmen wollen." Weil ein Foto oder ein Video nur einen einzigen, meist geschönten Moment widerspiegelt. Das ist der Lawine egal.