Als sich Oksana Shyshkova am Montagnachmittag vor die Kameras stellte, wusste sie genau, was sie sagen wollte. Anders als viele Athletinnen, die im Moment eines großen Sieges nach Worten suchen, hatte die 30-jährige ihr Statement genau parat. „Lasst uns in Frieden leben. Ich will Frieden auf der ganzen Welt, nicht nur in der Ukraine.“ Und offenbar mit Blick auf die europäischen und nordamerikanischen Mikrofone vor ihr fügte sie hinzu: „Bitte, an alle, die mich hören können, bitte fordert die NATO dazu auf, den Luftraum über der Ukraine zu schließen.

Es war natürlich nicht nur dies, was der Skilangläuferin einfiel. Am dritten Wettkampftag der Paralympischen Spiele in Peking hatte sie im Wettbewerb für Athletinnen mit Sehbehinderung die erste paralympische Goldmedaille für die Ukraine im Langlauf geholt. Schon am Samstag hatte Shyshkova im Para-Biathlonsprint Gold gewonnen. „Ich glaube, ich werde meine große Leistung erst begreifen, nachdem alles zu Ende ist und ich wieder zuhause bin. Aber alle Medaillen, die unser Team hier gewinnt, widmen wir der Ukraine und jedem Bürger und Bürgerin der Ukraine.“

Die Delegation aus jenem Land, das seit knapp zwei Wochen eine Invasion des russischen Militärs erleidet und täglich Todesopfer und weitere Zerstörung registrieren muss, lässt sich von den Kriegswehen daheim zumindest in sportlicher Hinsicht wenig anmerken. Als „ein Wunder“ hat Valeriy Sushkevych, Präsident des ukrainischen Nationalen Paralympischen Komitees (NOK), die erfolgreiche Anreise nach China bezeichnet. Die 20-köpfige Athletendelegation musste kurz nach Ausbruch des Krieges vor den russischen Angriffen gen Osten fliehen, alle sind unbeschadet angekommen.

Erfolgreiche Geschichte

Im Medaillenspiegel stand die Ukraine am ersten Wettkampftag am Samstag sogar auf Platz eins. Mittlerweile ist das Gastgeberland China davongezogen, die Ukraine aber gehört weiterhin zur Spitzengruppe. Angesichts des Krieges in der Heimat mag das starke Abschneiden der Osteuropäer beeindrucken. Überraschend ist es aber nicht. Historisch zählt die Ukraine sowohl bei olympischen als auch paralympischen Spielen zu den stärksten Nationen, insbesondere dann, wenn man den geringeren Lebensstandard im Vergleich mit anderen großen Sportnationen in Betracht zieht.

Bei den letzten paralympischen Winter- und Sommerspielen in Pyeongchang und Tokio landete die Ukraine jeweils auf dem sechsten Platz. In früheren Jahren schloss die Ukraine, deren Erfolge auch auf das alte Sportfördersystem der Sowjetunion fußen, ähnlich stark ab. Vor den nun laufenden Spielen in Peking konnten sich die Sportler zudem über weite Strecken noch regulär vorbereiten, ehe der Krieg ausbrach.

So sagte der NOK-Präsident Valeriy Sushkevych diese Tage in Peking: „Wir hätten einfach aufgeben und nicht nach Peking kommen können. Wenn es Bomben, Raketen und Explosionen gibt, ist anderes vielleicht wichtiger.“ Aber wegen der sportlichen Stärke sei dies keine echte Option gewesen: „Die Ukraine gehört zu den führenden Nationen bei der paralympischen Bewegung. Eine Supermacht will mein Land, unser Land zerstören. Dass wir hier sind, ist ein Zeichen dafür, dass die Ukraine ein starkes Land war und sein wird.“

Klare Botschaften

Das ukrainische Athletenteam nutzt die Spiele in Peking bewusst, um derart deutliche politische Botschaften in die Welt zu senden, dass es dem Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) noch unangenehm werden könnte. Schließlich fremdelt der große Sport immer wieder mit dem Gedanken, dass der Sport eine Plattform für Politik werde. So ist auch der Ausschluss der Delegationen von Russland und Belarus eher als ein Versuch zu verstehen, die Spiele möglichst von politischen Konflikten freizuhalten.

Doch da machen die Ukrainerinnen und Ukrainer offenbar nicht mit. NOK-Präsident Sushkevych hat erklärt, dass das Auftreten der Para-Athleten in Peking praktisch auch ein Akt des Krieges sei: „Die Front ist daheim und unser Militär verteidigt uns vom Aggressor. Aber unsere Front ist hier in Peking.“ Vitali Lukianenko, der am Wochenende Gold Biathlon mit Sehbehinderung Gold gewann, sagte: „Ich widme diese Medaille all jenen, die unsere Städte schützen.“ Lukianenkos stammt aus der Millionenstadt Charkiw, die kurz nach Beginn des Krieges unter Beschuss geriet.

Auch Oksana Shyshkova, die Goldmedaillengewinnerin im Biathlon vom Montag, stammt aus dem mittlerweile teils verwüsteten Charkiw. Ihr offen geäußerter Wunsch, dass nicht nur Frieden einkehre, sondern zu diesem Zweck das westliche Militärbündnis NATO auf die eine oder andere Weise in diesen Krieg eingreifen solle, ist die bisher wohl weitreichendste Forderung der ukrainischen Athleten an die Weltpolitik.

Sport als Plattform

Das IPC äußerte sich hierzu am Montag noch nicht. Dass Shyshkovas Statement bei den Organisatoren und Verantwortlichen aber auf großen Gefallen stieß, ist unwahrscheinlich. Schließlich würde ein Eingreifen der NATO welcher Art auch immer vermutlich auch zu verstärkten militärischen Aktionen auf russischer Seite führen. Russlands Präsident Putin hat in den letzten Wochen schon mehrfach wissen lassen, dass sein Land über Atombomben verfüge.

Unterdessen dient der Sport auch anderswo als Plattform für politische Statements inmitten des Krieges in der Ukraine – und dies eben nicht nur für reine Friedensgesten. Bei der Turn-WM in Katar sorgte der russische Turner Ivan Kuliak diese Tage für Aufregung, weil er auf seinem Outfit mit Klebeband ein Z befestigt hatte. Der Buchstabe steht für die Parole „Za pobyedu“ (Für den Sieg) und ist auch auf Tarnkleidung und Waffen des russischen Militärs zu finden.

Da der Internationale Turnverband russischen Athletinnen und Athleten die Teilnahme erlaubt, sofern sie nicht unter russische Flagge antreten, hatte der 20-jährige Kuliak das russische Wappen mit dem offenbaren Kriegssymbol überklebt. Als der drittplatzierte Russe neben dem Sieger Ilja Kowtun aus der Ukraine auf dem Siegerpodium stand, grinste Kuliak. Nun hat der Turnverband ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet, weil die Aktion als Kriegsverherrlichung angesehen wird.

Großer Balanceakt

Auch in Peking gelingt die Inszenierung der Paralympics als Ereignis des Friedens nur noch teilweise. Neben der Forderung von Oksana Shyshkova, die NATO möge sich auf die Seite der Ukraine stellen, gab es schon am Abend der Eröffnungsfeier ein Ereignis, das aufhorchen ließ. IPC-Präsident Andrew Parsons hatte zum Ende seiner Eröffnungsrede laut „Frieden“ ins Pekinger Stadion gerufen. Bei der chinesischen Simultanübersetzung für das Fernsehen wurde dieses entscheidende Wort nicht entsprechend übersetzt.

Die chinesische Regierung unterhält zwar intensive ökonomische Beziehungen zur Ukraine, aber eben auch zu Russland. Das offizielle Motto dieser Paralympischen Spiele – „Together for a Shared Future“ (gemeinsam für eine geteilte Zukunft) – könnte diese Tage besonders eindrücklich hochgehalten werden. Aber auf Seiten der Organisatoren wird es zusehends zum großen Balanceakt.