Für alle Zeitzeugen sind die Bilder im Kopf immer noch präsent, obwohl sie lange zurückliegen. Manche Momente im Leben sind so einschneidend und emotionalisierend, dass man sie nie vergisst. Bei den Olympischen Spielen 1998 in Nagano ereignete sich ein ebensolcher. Rückblick: Am Freitag, den 13. Februar findet nach mehreren witterungsbedingten Verschiebungen die Abfahrt der Herren statt. Hermann Maier gilt als hoher Favorit, er hatte zuvor in Bormio und am Lauberhorn gewonnen, im Fernen Osten möchte sich der Salzburger den Traum von Olympiagold erfüllen. Nach 18 Fahrsekunden scheint dieser Traum unendlich weit entfernt, schier unrealisierbar. An der Kuppe zerschellen alle Visionen, Maier hebt mit hoher Geschwindigkeit ab, fliegt wild durch die Luft.

In Österreichs Wohnzimmern herrscht Atemnot, so wie auch bei Alpindirektor Hans Pum, der den Abflug aus nächster Nähe am Gegenhang sieht. „Er hat eine viel zu enge Linie genommen, hat voll riskiert.“ Die ersten Gedanken? „Ich habe an das Allerschlimmste gedacht“, erzählt Pum im „Presse“-Gespräch. Schließlich hatte Pum schon einiges an Schrecklichkeiten erlebt. Der Oberösterreicher erinnert an den tödlichen Sturz des talentierten Gernot Reinstadler in Wengen 1991. „Den Gernot hab ich in Händen gehalten. Auch bei Hermanns Sturz sind mir sehr viele Sachen durch den Kopf gegangen ...“

Der Sturz von Maier im Video.

Maier segelt fast 40 Metern durch die Luft, durchschlägt mehrere Sicherheitszäune und kommt letztlich im Tiefschnee zu liegen. In den Tagen zuvor hatte es in Japan ausgiebig geschneit, der Schnee diente sozusagen als Dämpfer, vielleicht sogar als Lebensretter. „Der viele Schnee, das war sein großes Glück“, sagt Bernhard Russi, ebenfalls ein Augenzeuge. Der Schweizer hatte sich 100 Meter unterhalb der Kuppe platziert, dort, wo das Unglück seinen Anfang nahm. „Ich habe ihn fliegen sehen. Und wissen Sie was? Ich dachte, er steht diesen Sturz.“ Das mag absurd klingen, aber Maiers Körperspannung und die Entschlossenheit in seinen Augen hatten Russi zu diesem Glauben veranlasst. „Er hat in der Luft zum nächsten Tor geschaut, nicht dorthin, wo der Sturz womöglich enden könnte.“ Eine These, die Maier später bestätigte. „Ich dachte, ich komm ein bisserl schräg daher und werde ein wenig die Linie verlieren. Aber wenn ich dann aufkomme, dann fahre ich das Tor halt von weiter hinten.“

"...dabei konnte er nicht einmal richtig aus dem Bett aufstehen"

Maier konnte den Sturz freilich nicht stehen, im Tiefschnee kniend gab er per Handzeichen eine erste Entwarnung. Doch sein Körper, von Prellungen und Blutergüssen übersehen, schmerzte, am allermeisten aber das Knie. Schon am Folgetag hätte der Super-G stattfinden sollen, eine Teilnahme Maiers galt eigentlich als ausgeschlossen. Pum machte sich am Nachmittag im Hotelzimmer selbst ein Bild vom Gesundheitszustand des damals 25-Jährigen, fragte ihn, ob er denn glaube, am nächsten Tag rennfähig zu sein. „Der Hermann hat mich angeschaut und gesagt: ‚Das schaff ich schon.‘ Dabei konnte er nicht einmal richtig aus dem Bett aufstehen.“ Die ÖSV-Führungsriege befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einem Dilemma, weil unklar ist, ob Maier tatsächlich ins Rennen geschickt werden kann. „Wir hatten ja ein unglaublich starkes Team, mit Pepi Strobl einen hochklassigen Ersatzmann.“ Nebel verhindert sowohl am 14. als auch am 15. Februar die Durchführung des Super-G, so blieb Maier die nötige Zeit zur Erholung. Pum: „Dass er aber nur drei Tage nach diesem Sturz wirklich Gold gewinnt, daran habe ich am Tag der Abfahrt keine Sekunde gedacht. Das war die Geburtsstunde des Herminators.“

Dass Maier, getrieben von der Aussicht auf Erfolg, gewinnt, galt auch als Beleg dafür, „wie der Hermann körperlich und mental beinander war. Der wollte das unbedingt.“ Das zweite Gold im Riesentorlauf machte das märchenhafte Comeback perfekt, die Geschichte des Herminators ging um die Welt – und ein Mythos war geboren. Der gelernte Maurer aus Flachau definierte die Trainingsarbeit neu. „Maier“, sagt Pum, „war in vielerlei Hinsicht ein Pionier.“