"Die Olympischen Spiele werden den Sieg der Menschheit über das neuartige Coronavirus markieren.“ Shinzo Abe, der diese Worte im März 2020 gegenüber der versammelten Presse in Tokio aussprach, regiert Japan schon seit fast einem Jahr nicht mehr. Aber an die Worte des Ex-Premiers dürfte sich noch jeder im Land erinnern. Im selben Monat mussten die Spiele um ein Jahr verschoben werden, weil es nicht mehr nach einem schnellen Sieg über die Pandemie aussah.
Knapp eineinhalb Jahre später steht die Eröffnung der größten Sportveranstaltung bevor und die Lage ist nicht besser geworden. Zwar sind von den Zehntausenden Athletinnen, Offiziellen und Journalisten rund 80 Prozent gegen das Coronavirus geimpft. In der japanischen Bevölkerung liegt dieser Anteil jedoch bei kaum 20 Prozent. In mehreren Gegenden im Land sind die Krankenhäuser überlastet. Über die Hauptstadt ist der Ausnahmezustand verhängt: Die Menschen sollen möglichst daheimbleiben, Alkoholausschank in Restaurants ist verboten.

Dennoch hat auch Yoshihide Suga, der Nachfolger von Shinzo Abe als Premierminister, dessen Worte dieses Jahr wiederholt. Und leitete dann nach und nach diverse Schritte ein, die offenbarten, dass Tokio diesen Sommer keineswegs den Sieg über die Pandemie verkünden könnte. Ende Juni wurde ein ausgeklügeltes Konzept erarbeitet, mit dem bis zu 10.000 Menschen in die Stadien gelassen werden sollten, um es Anfang Juli wieder zu verwerfen. Alle Stadien in und um Tokio müssen nun leerbleiben. Zuschauer aus dem Ausland waren schon im März ausgeschlossen worden. So heißt „Tokyo 2020“, wie sich die Spiele auch nach der Verschiebung noch offiziell nennen, in diesem Sommer kaum die Welt willkommen. Geht es nach der japanischen Bevölkerung, ist dies angesichts der Umstände auch besser so.


Eine große Mehrheit im Land ist gegen die Austragung der Spiele, weil man sie für mittlerweile zu teuer und zu gefährlich hält. Die strengen Sicherheitsmaßnahmen für die Einreisenden überzeugen viele Menschen nur bedingt. Hinzu kommt aber, dass viele finden, es sei jetzt einfach nicht der Zeitpunkt, ein Fest zu veranstalten, das auf Jubeln angelegt ist. Den Spielen von Tokio verlieh die Regierung den Untertitel „fukkou gorin“ – die „Spiele des Wiederaufbaus.“ Doch die Tatsache, dass die Lage in Fukushima und den anderen beschädigten Gebieten zehn Jahre danach wieder besser ist als direkt nach der Katastrophe, reicht vielen nicht aus für solche hochtrabenden Formulierungen. Bis heute bleiben offiziell rund 40.000 Menschen evakuiert, weil die Strahlung noch zu hoch ist. Nicht in diese Statistik fließen diejenigen Menschen ein, die nicht mehr zurückkehren wollen, weil sie anderswo ein neues Leben aufgebaut haben.

Das Versprechen des Wiederaufbaus durch Olympia stößt vielen besonders sauer auf, weil mehrere Bauprojekte im Nordosten nicht zuletzt durch die hohe Aktivität in Tokio verhindert wurden. In der Hauptstadt war die Nachfrage nach Bauarbeitern und Materialien so hoch, dass in vor zehn Jahren zerstörten Orten eine Turnhalle oder ein Shoppingcenter nicht weitergebaut werden konnte. Ökonomische Fragen rund um die Spiele sind generell zu einem Reizthema geworden. Als die japanische Gesellschaft anfangs skeptisch gegenüber den Tokioter Bewerbungsplänen war, rechneten die Verantwortlichen vor, wie sehr die Wirtschaft von Olympia profitieren würde.

Die Olympischen Spiele sind nicht überall in Japan beliebt
Die Olympischen Spiele sind nicht überall in Japan beliebt © (c) imago images/ZUMA Wire (James Matsumoto via www.imago-images.de)


32 Milliarden US-Dollar an Mehrwert würden sie schöpfen, hieß es. Und dies ohne Einsatz von Steuergeldern. Die sechs Milliarden US-Dollar, die das Bewerbungsbudget als Kosten veranschlagte, sollten aus privaten Quellen beschaffen werden. Über die Zeit drehten sich die Zahlen um. 2016 schätzte eine von der Tokioter Metropolregierung eingesetzte Budgetkommission, dass die Kosten der Spiele auf bis zu 30 Milliarden ansteigen könnten, wenn nicht dringend gespart würde. Und als unabhängige Ökonomen die Ertragsprognosen unter die Lupe nahmen, kritisierten sie große Übertreibungen. Würde man von Olympia unabhängige Investitionen wie den Ausbau des 5G-Netzes rausrechnen, stünden die Einnahmen nur noch bei rund einem Viertel. Auch die Ankündigung, das Ganze würde keine Steuergelder kosten, war von Anfang an eine kreative Rechnung: Die Stadienbauten hatte man dafür ignoriert.

Unter den Tokioter Organisatoren liegen die Nerven schon lange blank. Seit Wochen wird regelmäßig gegen die Spiele protestiert. Dabei kommen die Rufe nach einer Absage nicht nur von der Straße und aus sozialen Medien. Diverse Gesundheitsexperten haben betont, dass „Tokyo 2020“ statt dem Sieg über die Pandemie zu einem Superspreadingevent werden könnte – zumal das Infektionsgeschehen in Tokio seit Wochen von der aggressiveren Delta-Variante geprägt ist.

Und selbst der Kaiser, so berichteten es japanische Medien Ende Juni, soll besorgt sein angesichts der Situation. Allerdings darf sich der laut Japans Verfassung nicht politisch äußern. IOC-Präsident Thomas Bach hingegen sagte diese Tage: „Das Wichtigste ist, dass diese Spiele stattfinden.“ So etwas mag mal nach Frieden und Völkerverständigung geklungen haben. Dieser Tage wirkt es in Tokio eher wie eine Drohung.