Können Sie sich eigentlich noch erinnern, wann und wie Ihnen Ayrton Senna zum ersten Mal aufgefallen ist?

SEBASTIAN VETTEL: Mein Vater war ein großer Senna-Fan. Er hat im Fernsehen immer sehr viel Formel 1 angeschaut, und er hat Senna sehr bewundert. Ich selbst bin ja erst 1987 geboren, ich kann mich also an die ersten Jahre seiner Karriere logischerweise nicht direkt erinnern. Meine ersten Eindrücke kommen aus der Zeit, als ich dann anfing, zusammen mit meinem Vater die Rennen zu sehen. Was da bei mir wirklich hängengeblieben ist, ist der Moment, als es Ayrton zum ersten Mal gelang, sein Heimrennen in Brasilien zu gewinnen. Damals war er ja nach dem Rennen so total erschöpft, weil es auch so schwierig für ihn gewesen ist. Man musste ihn auf dem Weg zum Podium sogar stützen – das ist so das erste Bild, das ich wirklich von ihm habe. Später habe ich dann mit meinem Vater zusammen fast alle Rennen gesehen, auch das in Imola 1994, dieses schlimme Wochenende.

Sie haben Ayrton Sennas Unfall also live gesehen?

VETTEL: Ja, aber als Kind, mit sieben Jahren, ist es sehr schwierig, sofort zu begreifen, was da wirklich geschieht. Später, wenn man zurückschaut, dann erinnert man sich ja oft ganz genau daran, was man in so einschneidenden Momenten genau getan hat, wo man war, wie man reagiert hat. Ich weiß aber noch, dass ich lange mit meinem Vater vor dem Fernseher gesessen bin, dass nicht klar war, was ihm nun wirklich passiert ist, ob er vielleicht doch nur verletzt ist. Ich glaube auch, dass mein Vater schon mehr verstanden und gewusst hat, aber es mir auch nicht so direkt sagen wollte.

Haben Sie später noch mit vielen Menschen über Senn gesprochen?

VETTEL: Ich habe sehr viel mit einigen Ingenieuren gesprochen, die früher mit Senna gearbeitet haben. Mit anderen Fahrern über so ein Thema zu sprechen, das bringt gar nicht so viel, wir haben ja gar nicht die Zeit und die Möglichkeit, unsere Konkurrenten so genau zu beobachten und kennen zu lernen. Ingenieure, die in gewisser Weise in der zweiten Reihe stehen, mit einem Fahrer arbeiten, die bekommen da viel mehr mit. Besonders erinnere ich mich an die Gespräche mit Giorgio Ascanelli, am Anfang meiner Karriere, bei Toro Rosso. Es war natürlich eine große Ehre, dass der mich damals hin und wieder ein bisschen mit ihm verglichen hat. Ich habe die Erinnerungen aus den Bildern, den Videos seiner Rennen – und wenn man dann mit den Leuten spricht, die mit Ayrton gearbeitet, ihn gut gekannt haben, dann bekommt man die Bestätigung für vieles, was man selbst an Eindrücken gewonnen hat.

Senna geriet im Laufe seiner Karriere öfters in Situationen, die eine Menge Polemik auslösten, weil er seine eigene Linie durchzog – sehen Sie da manchmal gewisse Parallelen zu sich selbst?

VETTEL:  Es ist für mich sehr schwierig, irgendwelche Vergleiche anzustellen, speziell über Jahrzehnte hinweg, zwischen meiner Situation heute und seiner damals, aber auch zwischen unseren Erfolgen. Ganz sicher ist, dass er garantiert noch unglaublich viele Erfolge gefeiert hätte, er hatte ja noch einige Zeit in der Formel 1 vor sich, das ist ja auch ein Teil der Tragik. Insofern sind die drei WM-Titel, die 41 Siege oder die 65 Polepositions zwar Zahlen, die da stehen, aber es wäre noch so viel mehr dazu gekommen. Deshalb ist es auch nicht fair, zu sagen, dass ich eben jetzt mit meinem vierten WM-Titel seinen Rekord überboten hätte. Außerdem halte ich generell nichts von Vergleichen, ich finde, jeder soll seinen eigenen Fußabdruck hinterlassen.

Sie interessieren sich ja auch für die Geschichte der Formel 1, kennen all die Autos, die Senna in seiner Karriere gefahren ist. Wenn Sie sich eines davon aussuchen könnten, um damit mal eine paar Runden zu drehen, welches würden Sie nehmen?

VETTEL: Wahrscheinlich den McLaren aus dem Jahr 1993, der hatte damals die Nummer 8, glaube ich. Ayrton ist damit zwar nicht Weltmeister geworden, aber er hat es geschafft, mit diesem Auto fünf Rennen zu gewinnen, obwohl es eigentlich deutlich langsamer war als jene der Konkurrenz. Es war also er, sein Talent, dass da gesiegt hat. Ich habe auch deshalb eine ganz besondere Beziehung zu diesem Auto, weil es das erste Formel-1-Modellauto war, das ich je besessen habe. Und wenn ich heute zurückblicke, dann verstehe ich natürlich erst recht, was es bedeutet hat, mit diesem Auto, unter diesen Bedingungen, zu gewinnen.

Was hat Ayrton Senna der Formel 1 auf Dauer hinterlassen?

VETTEL: Einen Eindruck, den niemand mehr mehr wegwischen kann, unabhängig von allen Zahlen und Ergebnissen. Ich glaube, er war in jeder Beziehung etwas ganz besonderes. Leider durfte ich ihn nie persönlich kennen lernen. Denn für mich war es nicht in erster Linie der Rennfahrer, sondern mehr die Person dahinter, der Mensch unter dem Helm, was ihn von allen anderen abgehoben hat. Sicher, er war unglaublich talentiert – aber hoch talentierte Fahrer gibt es einige. Was mich immer am meisten beeindruckt hat, ist die Tatsache, dass er die Fähigkeit besaß, seinen Charakter, der einzigartig war, seine starke Persönlichkeit und seine Menschlichkeit, mit ins Auto zu transferieren und diesen Charakter dann auch auf der Strecke, in seinem Fahrstil, seiner Art, Herausforderungen anzugehen, auszudrücken. Er hat diese Seite von sich mitgenommen, wenn er seine Rennen gefahren ist. Das ist wohl der Grund, warum sich die Leute immer noch so intensiv an Ayrton Senna erinnern.