Die 22. Auflage der Fußball-WM soll laut FIFA eine ganz besondere werden. Es soll sogar die beste WM aller Zeiten sein, mit Superlativen wurde seit der Vergabe 2010 nicht gespart. Und doch steht die WM 2022 in Katar unter einem Haufen kritischer Sterne - und das zu Recht. Die Verletzung von Menschenrechten im Zuge der Aufbauarbeiten in Katar und die korrupten Machenschaften der FIFA kratzen am glitzernden Lack des Produktes und des Gastgeberlandes.

Das Sportliche rückte in der Vorberichterstattung in den Hintergrund, gesellschaftspolitische Themen gaben den Ton an. Ja, und plötzlich steht die WM dann doch vor der Tür. Sie wird für viele als vorweihnachtliches Geschenk zu einer ungewöhnlich kalten Jahreszeit ins Wohnzimmer geliefert. Kaum eine Woche, nachdem in unseren Breitengraden die nationalen Ligen in den Winterschlaf geschickt wurden.

Das klassische WM-Gefühl hat sich bei mir noch nicht eingestellt, mein Panini-Pickerl-Heft ist erst zu 40 Prozent gefüllt - so schlecht war meine Vorbereitung auf ein Großereignis noch nie. Zumal ich meinen Kindern erklären muss, dass ihr französischer Lieblingsspieler und Weltmeister, den sie liebevoll „Engolo Kante“ nennen, verletzungsbedingt zu Hause bleiben musste und auch so manch andere Nation, wie unser geliebter Stiefel im Mittelmeer, nicht nach Katar reisen durfte. Ich lass‘ mich aber überraschen, wie die WM auf mich und andere wirkt - polarisierend ist sie ja wie keine andere zuvor ausgetragene Fußball-Großveranstaltung.

Wegschauen und Boykottieren ist für mich aber kein Thema, Fußball ist Teil meines Berufs. Ich liebe es, wenn viele verschiedene Nationen zusammenkommen und eine gemeinsame Sprache sprechen: Fußball. Viel mehr möchte ich meine eigene Meinung und Glaubenssätze stärker formulieren. Viele gesellschaftliche Missstände im Gastgeberland werden weltweit durchleuchtet - eine hervorragende Chance, sich zu entscheiden, wofür man selbst steht.

Und wie sieht es nun mit dem Spielplan aus? Heute trifft das Gastgeberland Katar auf die neue Fußballgeneration aus Ecuador. Mussten die Südamerikaner bei der WM 2018 in Russland noch zusehen, schaffte es Trainer Gustavo Alfaro mit einer jungen, hungrigen Mannschaft, sich mit Platz vier in der Qualifikation direkt für die WM zu qualifizieren. Schlüsselspieler der „Dreifarbigen“ wird Moises Caicedo sein, der seine Brötchen bei Brighton in der englischen Premier League verdient. Ein 21-jähriges Fußball-Juwel mit dem liebevollen Spitznamen „Nino Moi“, zählt für mich zu einem der besten Box-to-box-Mittelfeldspieler.

Die technisch affinen Katari gewannen 2019 sensationell die Asienmeisterschaft und hatten eine WM-Vorbereitung, von der andere Nationalteamtrainer nur träumen konnten. Seit Mitte September befinden sich die Spieler in Trainingscamps in Wien bzw. in Marbella, komplett abgeschottet von der Außenwelt, um an ihrem großen Eröffnungstag ihr Land stolz zu machen. Ein Land, das 30 Prozent kleiner ist als die Steiermark, sollte mein altbewährter „Texas Instruments“-Taschenrechner nicht lügen. Ein Land, das das globale Interesse wie ein Strudelsog auf sich gezogen hat.

Bei so manch kleiner Tipprunde unter Freunden bin ich dabei, das Eröffnungsmatch im Al Bayt Stadion geht für mich an die physisch stärkeren Ecuadorianer, die einen 2:0-Sieg feiern. Um 17.00 Uhr geht es los, wenn der italienische Schiedsrichter Daniele Orsato (die Italiener sind also doch dabei!) die umstrittenste WM aller Zeiten anpfeift.

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