Es gibt nicht viele Orte, wo man in dem Städtchen Ziwilsk, an der Straße von Nischni Nowgorod nach Kasan, Fußball schauen kann. Im Restaurant Wstretscha wird heute eine Hochzeit gefeiert, auf dem Jahrmarkt am Tichwinsker Frauenkloster gibt es zwar eine Freilichtbühne, aber der Leinwandprojektor dort soll lausig sein. "Außerdem ist da Alkohol verboten", grinst Sascha, 27, der zusammen mit seinen Freunden Anton und Stas auf dem großen Kunstledersofa im Sushi-Pizza-Café „Samurai“ sitzt und Schaumweizen trinkt, eine regionale Hefeweizenbiermarke.

Sacha ist Berufsfotograf, er war früher als Torhüter auf dem Sprung ins Profiteam von FC Dynamo Tscheboksary, als ein zweifacher Meniskusriss seine Karriere beendete. Jetzt hat er listig eine 1,5-Liter-Plastikflasche mit zusätzlichem Weizenbier unter dem Tisch platziert, das ist billiger als die Halblitergläser, die für umgerechnet 1,10 Euro ausgeschenkt werden.
Saschas Glas ist fast leer, als die Russen erstmals in den kroatischen Strafraum eindringen; dabei kommt nicht einmal eine Halbchance heraus. Sascha schwant Böses: „Unsere fangen zu gut an, das endet oft schlecht.“ Das Spiel ist hektisch, die Russen rennen, die Kroaten sind besser. Als Denis Tscheryschew den Führungstreffer erzielt, jubelt die Kneipe erst nach mehreren Sekunden ungläubigen Staunens auf, die Kroaten gleichen aus, der „Samurai“ leidet, das Schaumweizen fließt in Strömen.

Spätabends ist Russland im WM-Viertelfinale gescheitert, die russische Öffentlichkeit aber feiert seine geschlagenen Helden wie Kosmonauten, die vom Mars zurückgekehrt sind. Präsident Wladimir Putin bedankte sich telefonisch bei Trainer Stanislaw Tschertschessow für das „historische Spiel und den schönen Kampffußball“ seiner Mannschaft. Die tauchte am Sonntag in der Moskauer Fanzone auf und wurde von Tausenden Fans bejubelt. „Wir haben das Land gezwungen, die Sbornaja zu lieben“, sagte Tschertschessow. Ein Kommentator des staatlichen Sportkanals Match.TV schwärmte: „Endlich einigt unser Land etwas anderes als Krieg.“

"Wir sind das neue Island"

Dabei war die erste Viertelfinalteilnahme seit 1970 vor allem das Ergebnis gründlich heruntergeschraubter Erwartungen. Zu Sowjetzeiten spielte die Sbornaja schnelles, technisch feines „Rasenschach“, gelangte damit 1988 noch ins EM-Finale. Nach dem Ende der Sowjetunion drei Jahre später versuchten die Russen es weiter mit spektakulärem Angriffsfußball, bis auf ein glänzendes Intermezzo unter Guus Hiddink bei der EM 2008 immer vergeblich. Bei dieser WM aber rannten sie und kämpften, mauerten. Ästhetisch war es eher Rumpelfußball. Oder wie ein Fan twitterte: „Wir sind das neue Island.“

Aber die Ergebnisse stimmen wieder. Bei dieser WM habe man kein Spiel außer dem bedeutungslosen Kick gegen Uruguay verloren, freut sich Mittelfeldspieler Roman Sobnin. „Die Sbornaja kann mit den Topmannschaften auf einem Niveau mitspielen.“

Zurück ins Restaurant Wstretscha, als Ivan Rakitic mit seinem Elfmeter die Russen aus dem Turnier geschossen hatte. Zwei junge Männer brüllten so triumphierend in die Schockstille, als wäre die Sbornaja gerade Weltmeister geworden. Pascha und Ljoscha, stellte es sich heraus, hatten auf Kroatien gewettet. „40.000 Rubel habe ich verloren, nachdem unsere im Achtelfinale Spanien besiegt hatten.“ Pascha strahlte. „Die habe ich jetzt zurückgewonnen.“ 40.000 Rubel sind umgerechnet knapp 550 Euro. Das sind hier fast zwei Monatsgehälter. Russlands Fans freuen sich, dass sie wieder ein Nationalteam haben, das mitspielen kann. Russlands Zocker auch.

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