Feuerwehrfest war in dem steirischen Ort, wo wir wohnten, und dabei sollte auch das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft übertragen werden: Deutschland gegen Brasilien. Wir machten uns also, wie jedes Jahr, als ganze Familie zur Dorfwiese auf. Beim ersten Blick über den Riegel trauten wir unseren Augen nicht: ein Meer von
brasilianischen Fahnen!

Mit Hunderten Festbesuchernwaren wir gut bekannt, mit
Dutzenden befreundet. Komisch: Eine besondere Vorliebe unserer Mitbewohner zu Südamerika war uns bis dahin nie aufgefallen.
Unsere Freunde begrüßten uns sichtlich verlegen; irgendwie hatte dieses Mal niemand mit uns, "den Deitschn", gerechnet. Als dann auf der Festwiese beim 1:0 für Brasilien frenetischer Jubel ausbrach, trafen uns scheue Blicke. "Musst net so ernst nehmen", raunte mir ein liebenswerter Nachbar ins Ohr. Unsere Anwesenheit war allen peinlich. Ungefähr so, wie wenn auf der Hochzeit plötzlich der verflossene Liebhaber der Braut erscheint.

Österreicher halten immer zu der Mannschaft, die gegen Deutschland spielt

Gelernt haben wir an dem Tag: Österreicher halten bei Weltmeisterschaften immer zu der Mannschaft, die gerade gegen Deutschland spielt. Das tat ein bisschen weh. Gelernt
haben wir aber auch: Mit uns Deutschen hat das im Grunde nichts zu tun.

Seit es „Public Viewing“ gibt, ist das besondere Verhältnis der Österreicher zum deutschen Fußball kein Geheimnis mehr. Nur zufällige deutsche Besucher wissen nichts davon. Noch vor Tagen musste ich es drei Wuppertaler Monteuren erklären, die sich in Graz vor einen öffentlichen Bildschirm verirrt hatten und über die Massen an „Mexikanern“ wunderten. „Hassen die uns so?“, fragte mich einer der Monteure, völlig konsterniert. Sie verstehen es nicht. Deutsche wollen zwar ihre Mannschaft unbedingt siegen sehen. Wenn sie aber verlieren, ist ihnen relativ egal, gegen wen; allenfalls ist ihnen Spanien doch lieber als die Färöer-Inseln. Aber wäre Deutschland ausgeschieden und Österreich weitergekommen, nur einmal so ganz, ganz hypothetisch angenommen, dann hätten sie womöglich ersatzweise für Österreich gehalten. Warum auch nicht, wo das Land doch so nah und so vertraut ist?

Nicht nur Deutschen ist die österreichische Jubelpraxis unverständlich. Überall auf der Welt halten alle für die Mannschaft des eigenen Landes. Wenn die sich nicht qualifiziert, suchen sie sich eine andere und halten dann für die. Dass die Fans sich aber eine Mannschaft suchen, der sie dann Niederlagen wünschen: Das gibt es nur in Österreich.

Ein Bekannter hat Einspruch gegen meine Behauptung angemeldet: So einzigartig sei das nicht, auch die Kosovo-Albaner würden sich freuen, wenn Serbien verliert. Bei dem Vergleich musste ich dann doch etwas schlucken. Denn Hass, wie zwischen Albanern und Serben, herrscht ja zwischen Österreichern und Deutschen nun wirklich nicht. Aber der Vergleich ist nicht bloß überzogen, er stimmt ganz einfach nicht. Mehr als über serbische Niederlagen nämlich freuen sich die Kosovaren über Siege der Schweiz – weil in der „Nati“ so viele Albaner spielen.

Österreicher dagegen freuen sich über österreichische Siege nicht so sehr wie über deutsche Niederlagen. Sie glauben es nicht? Der Beweis ist „Córdoba“: das WM-Spiel des Jahres 1978, das Österreich mit 3:2 gegen Deutschland gewann. Österreichs Nationalmannschaft hat die des größeren Nachbarlandes in der Geschichte schon fünf Mal besiegt, einmal sogar 5:0 und zweimal auch schon nach dem legendären Spiel in Argentinien vor vierzig Jahren. Aber ausgerechnet Córdoba hat sich ins nationale Gedächtnis eingeschrieben. Warum? Weil nur 1978 Deutschland wegen Österreich aus dem Turnier flog. Selbst in der direkten Konfrontation noch schmeckt die deutsche Niederlage süßer als der eigene Sieg. Man nennt es Schadenfreude, aber es ist eine tragische Emotion. In Deutschland ist Córdoba kaum bekannt, und es wäre längst vergessen, wenn nicht die skurrile Erinnerungskultur der Österreicher auch über die Grenzen hinaus Aufmerksamkeit erregen würde. Richtig freuen kann man sich über den Schaden eines anderen nur, wenn der sich entsprechend ärgert.

Es ist kein Hass, es ist Teil der Identität

„Hassen sie uns so?“, hat mich der Monteur gefragt. Nein; da konnte ich ihn guten Gewissens beruhigen. Die Österreicher sind vielmehr die Nicht-Deutschen. So ist im und nach dem Zweiten Weltkrieg die österreichische Nation entstanden: in Abgrenzung zu den Deutschen. Nicht deutsch sein, ist bis heute der Kern der österreichischen Identität.

Da muss sich über den Fußballjubel niemand wundern: Es sind ja immer Nicht-Deutsche, die gegen Deutschland spielen. In diesem Sinne sind Brasilianer, Mexikaner, selbst Südkoreaner die völlig legitimen Landsleute des österreichischen Fans.

Und die Deutschen? Weil sie immer selber gewinnen wollen, können sie auch krachend verlieren – ein Schicksal, dem die Österreicher trotz viel häufigerer Niederlagen elegant entgehen. Deutsche Niederlagen aber sind nicht schön, liebe Nachbarn, sondern gefährlich: Sie wecken den tief sitzenden Keiner-kann-uns-leiden-Komplex. Man führt ihn gern auf die NS-Geschichte zurück, er wurde aber schon im Deutschland der Kaiserzeit hingebungsvoll gepflegt. Der Komplex ist gefährlich, denn wenn keiner uns leiden kann, brauchen wir auch die anderen nicht zu mögen und können kräftig draufhauen. Die Franzosen können ein Lied davon singen. Hoffentlich werden sie Weltmeister.

Und, ach so: Mit Fußball hat das alles selbstverständlich nichts zu tun.