I. Von Cocktails und Celine Dion

Der Juni 1998 war zweifelsohne einer der gemütlichsten Monate in meiner persönlichen Biographie. Kurz nach der bestandenen Matura ging es auf die Partyinsel Ibiza, um die Fesseln der Schulausbildung abzustreifen und die erlangte Reife in aller Öffentlichkeit unter Beweis zu stellen (oder so ähnlich). Viel ist von den zwei Urlaubswochen nicht in Erinnerung geblieben, außer vielleicht die bitterbösen, bunten Cocktails in den Ein-Liter-Plastikkübeln und Celine Dions Titanic-Schmachtfetzen "My Heart will go on" in der gewöhnungsbedürftigen Dance-Version.

Präsent ist auch noch das Fehlen jeglichen Minderwertigkeitskomplexes gegenüber den ebenfalls die Hotelanlage bevölkernden Engländern und Deutschen. Nicht nur die beiden Fußball-Großmächte waren schließlich bei der währenddessen in Frankreich abgehaltenen Weltmeisterschaft vertreten, auch das kleine Österreich hatte eine Ballesterer-Auswahl in die "Grande Nation" entsandt. Das ÖFB-Team hatte sich sogar mehr als souverän für die Endrunde qualifiziert: Platz eins in einer Gruppe mit Schottland, Schweden, Lettland, Estland und Weißrussland. 25 Punkte nach acht Siegen in zehn Spielen, bei einer Tordifferenz von 17:4 – die nackten Zahlen sprechen für sich, ähnliches kann man sich heute (fast) gar nicht mehr vorstellen.

II. "Schwedenbomber" & "Schmähführer"

"Das Grab war schon ausgeschaufelt, der Sarg war schon drinnen, aber der Deckel ging wieder nicht zu", erklärte Herbert Prohaska seine Situation als Teamchef nach dem ersten Schweden-Spiel, das Österreich dank Andi Herzog mit 1:0 für sich entschieden hatte. Der einzigen Quali-Niederlage – 0:2 gegen Schottland – folgten daraufhin sechs Siege in sechs Partien! Herzog traf nochmals gegen Schweden, auch Toni ließ es im Sinne seines Hits mit den "Fabulösen Thekenschlampen" mehrmals erfolgreich im Strafraum polstern.

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Prohaskas 22-Mann-Kader – Gilbert Prilasnig musste kurz vor WM-Beginn wegen eines Kreuzbandrisses passen – bezog im Juni 1998 im "Relais de Margaux", 25 Kilometer nördlich von Bordeaux, sein Quartier. "Das ist so abgelegen, dass du mit dir selber zu Reden anfängst", kommentierte Didi Kühbauer die Standortwahl. Die "Fußballgötter" spielten zwar schon damals woanders, dennoch, Österreichs Abordnung hatte fraglos Qualität: Mit Michi Konsel und Franz Wohlfahrt gab es zwei starke Torhüter, die beide erfolgreich im Ausland spielten. Die Defensive dirigierte Wolfgang Feiersinger, Libero bei Borussia Dortmund, unterstützt von den soliden Manndeckern Peter Schöttel und Toni Pfeffer, den Kapitänen der Wiener Großclubs Rapid und Austria. Diese Abwehrformation hatte fast die gesamte Qualifikation miteinander durchgespielt.

Im Mittelfeld gab es beinahe ein Übergewicht in der Kreativabteilung – mit "Schwedenbomber" Herzog, Antreiber Kühbauer und den beiden Edeltechnikern Peter Stöger und Ivica Vastic. Dazu kamen gestandene Bundesliga-Profis wie Heimo Pfeifenberger, Andi Heraf und Harald Cerny sowie eine starke Fraktion von Meister Sturm Graz (Mario Haas, Roman Mählich, Hannes Reinmayr, Markus Schopp). Im Angriff schließlich Österreichs vielleicht schillerndster Fußballer der vergangenen 25 Jahre, Toni "Doppelpack" Polster, ein Strafraumstürmer der alten Schule, genialer "Schmähführer" und Selbstdarsteller, der es punkto Charisma vermutlich mit der gesamten heutigen Nationalmannschaft aufnehmen kann.

III. Exotische "Wunderknaben"

Leider konnten Herzog, Polster und Co. die Form der Qualifikation nicht bis zur WM bewahren, das ÖFB-Team bestach in Frankreich einzig mit der Tatsache, alle drei Tore in der Nachspielzeit zu erzielen. Das erste Spiel bestritten die "Wunderknaben" (so der Titel des gemeinsam mit Udo Jürgens aufgenommen WM-Songs) am 11. Juni in Toulouse gegen Kamerun. Njanka brachte die Afrikaner in Führung, Polster hämmerte in der Schussminute den Ball in die Maschen und stolzierte hernach fröhlich, nur mit einem Kamerun-Dress bekleidet, im Stadion umher. "Bei der Fußball-WM habe ich mir Österreich gegen Kamerun angeschaut. Auf der einen Seite Exoten, fremde Kultur, wilde Riten und auf der anderen Seite Kamerun", formulierte später der deutsche Kabarettist Dieter Nuhr.

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Spiel zwei ging sechs Tage später in St. Etienne über die Bühne, als Gegner wartete Chile mit den beiden Top-Angreifern Ivan Zamorano und Marcelo Salas. Abermals traf ein Österreicher in der Schlussphase, Ivo Vastic. "Trefft ihr immer so genau ins Kreuzeck?", befragte Chiles Torhüter Nelson Tapia genervt Polster, der trocken entgegnete. "Wir trainieren das!". Noch zwei Tage nach dem Match titelte die Kronen Zeitung übrigens "Ivo, jetzt bist du ein echter Österreicher!", darunter ein Bild von Vastic mit rot-weiß-roter Fahne.

Österreich hatte also tatsächlich noch Chancen aufs Achtelfinale, als es am 23. Juni im Stade de France von Paris gegen den Gruppenersten Italien um alles oder nichts ging. In einem kleinen Hotelzimmer in Ibiza wartete auch fast die gesamte männliche Belegschaft meiner Klasse auf die große Sensation – allein, die kam nicht. Christian Vieri und Roberto Baggio scorten für eine keinesfalls übermächtige "Squadra Azzurra", Herzogs Anschlusstreffer per Elfer fiel viel zu spät, Chile spielte statt Österreich gegen den amtierenden Weltmeister Brasilien. "Es waren eigentlich normale Ergebnisse. Wir sind nur an unserer Mentalität gescheitert, an sonst nichts", resümierte Herbert Prohaska, dessen Team bereits wieder die Koffer packen musste.

IV. Ob ÖFB, ORF oder Sky, 98'er sind immer dabei

Heute, dreizehn Jahre später, analysiert Jahrhundert-Fußballer Prohaska Spiele im Österreichischen Rundfunk, das Nationalteam bemüht sich indes um den nächsten Neubeginn nach der nächsten verpassten Chance, sich für ein Großereignis zu qualifizieren. Mittendrin statt nur dabei in der österreichischen Kicker-Szene ist auch noch die Spielergeneration von einst, ob als Trainer oder TV-Experte. Gleich vier der zehn Bundesligavereine werden von WM-Kickern trainiert: Rapid (Schöttel), Admira (Kühbauer), Wiener Neustadt (Stöger) und Wacker Innsbruck (Walter Kogler).

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Auch im Österreichischen Fußballbund sind einige WM-Helden gelandet: Wohlfahrt ist Tormanntrainer beim Nationalteam, Heraf coacht aktuell die U17-Auswahl. Andi Herzog trainiert – quasi als Warteschleife für den Teamchefposten – die U21. Seine aktuellen Co-Trainer sind mit Otto Konrad und Michael Baur zwei weitere ehemalige Liga- & Team-Größen, zuvor wurde "Herzerl" von Pfeifenberger und Schopp assistiert. Begehrt ist die 98er-Generation auch als Experte beim ORF oder beim Pay-TV-Sender Sky: Heraf, Herzog, Konsel, Mählich, Schopp, Schöttel und Stöger waren oder sind als Fernseh-Analytiker tätig. Ob so viel geballte Power der 98er-Generation nun als Fluch oder Segen für den heimischen Kick anzusehen ist, sei mal dahingestellt, auffällig ist die Häufung allemal. Eine absolute Ausnahme bildet da schon "Sali" Feiersinger, der auf seiner Tiroler Almhütte allenfalls die Spielergebnisse seiner bei den Bayern kickenden Tochter Laura mitverfolgt.

V. Ein unrühmliches Ende – und ein legendärer Sager

Die durchaus erfolgreiche Prohaska-Ära endete übrigens eher unschön – mit dem 0:9-Desaster gegen Spanien im Mestalla-Stadion von Valencia am 27. März 1999. Einzig in Erinnerung geblieben sind dabei aber weniger die vier Treffer eines gewissen Raul noch die Tatsache, dass neben Prohaska auch Reinmayr, Wetl und Pfeffer ihre Team-Karriere beendeten. Letzterer sorgte nämlich, beim Stand von 0:5, für die wohl scharfsinnigste Halbzeit-Analyse aller Zeiten, aber urteilen Sie selbst!