Im Leben von Sturm-Masseur Gerhard Wallner hätte der 18. Mai 2002 einer der schönsten Tage werden sollen. Geplant war seine Hochzeit, geworden ist es das Begräbnis seiner Liebsten. Sie kam vier Tage vor der Trauung bei einem Autounfall ums Leben. Was das mit Ivica Osim zu tun hat? Der Bosnier war als Trauzeuge von Wallner vorgesehen, hatte deshalb die Reise zur Fußball-WM 2002 in Südkorea und Japan abgesagt. Damit ist eigentlich alles gesagt über Ivica Osim. Er, dessen Leben Fußball ist, fuhr nicht zur WM, weil ihm ein ihm nahestehender Mensch wichtiger war. Dass er vom Trauzeugen zum Trauergast wurde, ist Schicksal.

Osim musste in seinem Leben mehrere schwierige Entscheidungen treffen, Schicksalsschläge verarbeiten. Wie etwa am 23. Mai 1992. Unter Tränen verkündete er seinen Rücktritt als Teamchef der jugoslawischen Nationalmannschaft. Er sagte: „Verstehen Sie das, wie Sie wollen. Das ist meine private Geste und meine persönliche Entscheidung. Mein Rücktritt ist das Einzige, was ich für meine Stadt tun kann. Sie sollen sich erinnern, dass ich aus Sarajevo komme. Sie wissen, was dort passiert.“ Seine Heimatstadt war von den bosnischen Serben eingekesselt und mit Granaten angegriffen worden. Er war mit Sohn Selimir in Belgrad und konnte nicht zurück in seine Heimatstadt, in der seine Frau Asima mit Tochter Irma festsaß. Er, der als Teamchef aus dem ethnischen Mix von Serben, Slowenen, Kroaten und Bosniern eine Einheit geformt hatte, stand der damaligen Politik machtlos gegenüber und kapitulierte auf seine Weise.

Danach ging Osim nach Griechenland, wurde Trainer von Panathinaikos Athen. Die folgenden Monate und Jahre (Frühjahr 1992 bis Herbst 1994) waren für die gesamte Familie eine große Herausforderung. Ivan und Selimir lebten in Griechenland, Amar in Frankreich und Asima verbrachte mit Irma unzählige Tage in den Bunkern in Sarajevo. So oft es möglich war, wurde telefoniert und von den neuesten Granateinschlägen berichtet. „Wir hatten wenig zu essen, kaum Wasser. Es war nicht leicht“, erzählt Asima und springt von der schrecklichen Vergangenheit in die Gegenwart: „Corona ist schlimmer als der Krieg. Im Krieg haben wir als Gemeinschaft zusammengehalten, uns gegenseitig unterstützt. Aber bei Corona sind wir alle allein. Das macht die Kinder, die ganze Gesellschaft und auch Ivan kaputt.“

Osim selbst fühlt sich nicht schlecht, wie er sagt: „Für 80 geht es mir gut.“ Und wahrlich ist „Svabo“ (der Schwabe), wie Osim aufgrund seiner blonden Haare in seiner Heimat immer genannt wurde, nicht kaputt zu kriegen. Am 26. November 2007 wachte er in der Jutendo-Klinik in Tokio auf, nach zehntägigem Koma. Ein Schlaganfall hatte ihn niedergestreckt, aber glücklicherweise nicht umgebracht. Asima bangte um sein Leben, so wie Ivan während des Krieges um Asimas Leben gebangt hatte. Seither muss Osim mit einer teilweisen, linksseitigen Körperlähmung leben. Körperlich ist er eingeschränkt, geistig aber weiter hellwach. Es gibt kein Gespräch, in dem er sein Gegenüber nicht prüft, oft mit scheinbar lapidaren Fragen. So, wie er es immer tat. War der Gesprächspartner oberflächlich, redete Osim zwar viel, sagte aber nichts.

Vor Ausbruch der Corona-Pandemie sinnierte Osim bei einem Treffen in Sturms Trainingszentrum in Messendorf – wie so oft – über Fußball. Mehr Wechsel in einer Partie seien gut, sagte er – und drei Drittel. Dann könne man als Trainer besser reagieren, das Spiel würde an Spannung gewinnen. Mehr Wechselspieler sind, coronabedingt, mittlerweile erlaubt. Osim war seiner Zeit immer schon voraus, „zerlegte“ den Fußball in seine Einzelteile und fügte ihn auf seine ganz spezielle Art wieder zusammen. Eine Gabe, dank der er mit all seinen Mannschaften Erfolg hatte. Den SK Sturm führte er auf seine Art zu zwei Meistertiteln (1998, 1999), drei Cupsiegen (1996, 1997, 1999) und drei Teilnahmen in der Champions League (1998, 1999, 2000). Er versetzte das schwarz-weiße Graz jahrelang in Entzückung, ehe es im September 2002 zum unerfreulichen Ende kam, weil Präsident Hannes Kartnig polterte und seinen Trainer beleidigte. Osim selbst übte sich stets in Demut und Zurückhaltung. Aber es war ein Punkt erreicht, an dem Osim nicht mehr mitspielte. Schicksal. Den späteren Prozess wegen Mobbings und ausstehender Zahlung gewann der Bosnier, das Geld spendete er.

Das abhanden gekommene Lächeln

Osim lächelte kaum. Die Kriegswehen in seiner Heimat hätten ihm sein Lächeln genommen, sagte er einst. Und dennoch: In schönen Momenten strahlen seine Augen ganz besonders. Ein Glanz, dem 1961 auch Asima verfiel. Sie verliebte sich in den großen, schlaksigen Fußballer mit abgeschlossenem Studium (Mathematik, Physik), der bei Zeljeznicar Sarajevo und später auch in Jugoslawiens Nationalteam spielte, Auslandsengagements folgten. Er wurde aufgrund seiner eleganten Spielweise „Strauß von Grbavica“ genannt.

Aber zurück zu Asima und Ivan. „Ich habe die technische Schule besucht und er war im zweiten Studienjahr. Er hat mir ein bisschen geholfen. Eine Freundin hat uns bekannt gemacht“, erzählt Asima und lacht immer wieder herzhaft auf, während sie sich erinnert. „Ich wollte damals immer spazieren gehen, aber Ivan nur Kuchen essen in einer Konditorei. Er war immer so müde vom Training. Also sind wir Kuchen essen gegangen und dann auch ins Kino. Es war eine wunderbare Zeit.“ Dreieinhalb Jahre nach dem Kennenlernen – am 19. November 1964 – wurde geheiratet. Nach den Olympischen Spielen in Tokio, wo Osim beim 6:1 über Japan zwei Tore erzielte. Zwei Treffer mit Langzeitwirkung. Bei seiner Ankunft im „Land des Lächelns“ im Jahr 2002 erinnerte man ihn daran. Osim hatte das Traineramt bei JEF United übernommen. Die Japaner waren ihm wegen der zwei Tore nicht böse. Im Gegenteil. Osim wurde verehrt wie kein anderer Trainer. „Sensei“ (Lehrer) nennen sie ihn. Ein Buch mit seinen Sprüchen wurde fast eine halbe Million Mal verkauft. Bis heute wollen die Verantwortlichen des japanischen Fußballverbandes Osim als Berater gewinnen. Seine Zeit als Teamchef von Japan (2006/07) hatte beeindruckt. Sein gesundheitlicher Zustand lässt aber keine Reise nach Asien zu, sagt Asima und will erwähnt wissen: „Mein Mann ist ein guter Mann, er hilft immer anderen Menschen und ist immer korrekt. Das ist auch wichtig für die Beziehung.“

Nach wie vor ist Asima diejenige, die Ivica den Rücken für seine Leidenschaft Fußball freihält. Sie zog die drei Kinder auf. Sie ist seine „Firewall“ bei Telefonanrufen. Sie ist seit 57 Jahren (mit Ausnahme der Kriegsjahre) stets an der Seite ihres Gatten und unterstützt ihn seit dem Schlaganfall tagtäglich noch intensiver. Im „ballesterer“ sagte Sturms Jahrhunderttrainer: „Ohne Asima hätte ich das alles nicht geschafft. Sie soll ihnen sagen, wie sie unsere Kinder großgezogen hat und ich nie da war. Wie viel Wäsche sie für uns gewaschen hat. Wie es war, mit mir zu leben auf all unseren Stationen. Sie hat mir immer vertraut. Das ist mir wichtig.“

"Süßes geht immer, aber sonst isst er einfach zu wenig"

Asima ist wichtig, dass ihr Gatte wieder mehr isst: „Süßes geht immer, aber sonst isst er einfach zu wenig“, merkt sie an. Außerdem sei für „Ivan auch gut, wenn er wieder unser Haus verlassen darf und ein Spiel oder ein Training von Sturm miterleben kann“. Osim feiert heute seinen 80. Geburtstag. Dass er sich bald mit dem Besuch eines Sturm-Trainings selbst beschenkt, gilt als wahrscheinlich. Und dort wird er auch wieder Gerhard Wallner treffen, seinen Freund.

Dieser Artikel erschien bereits am 6. Mai 2021 zu Ivica Osims 80. Geburtstag.