Es gibt wahrscheinlich keinen Österreicher, der den englischen Fußball in all seinen Facetten besser kennt als Johnny Ertl. Der Grazer spielte fünf Jahre auf der Insel (Crystal Palace, Sheffield United, FC Portsmouth) und liebte nach eigener Aussage das dortige Leben. Daher ist auch klar, für wen der 38-Jährige heute im Finale die Daumen drückt. "Es ist an der Zeit, dass England gewinnt. Wir alle wissen von der 55-jährigen Dürreperiode. Das muss ein Ende haben. In Österreich ist durch den Achtelfinal-Einzug Cordoba hoffentlich auch endgültig erledigt. Irgendwann ist ein Thema ausgelutscht. Und ich hoffe, für die Engländer, dass sie Geschichte schreiben", sagt der Fußball-Experte.

Für Ertl hätten es sich die Engländer auch verdient. Er führt mehrere Gründe an. Da wäre einmal der Heimvorteil. "Wenn du ins Wembley kommst, ist das phänomenal. Es ist die Pilgerstätte, wo auch unterklassige Vereine spielen dürfen. Ich durfte dort auch spielen, es ist eindrucksvoll. Die britischen Zuschauer sind ein Faktor, den man nicht unterschätzen darf. Da wird keiner sitzen. Alle gehen mit, vor allem nach den 16 Monaten ohne direkten Kontakt", sagt Ertl.

England hat nach Ansicht Ertls nicht die beste Mannschaft. Sehr wohl aber ein "homogenes Team ohne Egozentriker in den Reihen". Das wiederum ist der Verdienst von Gareth Southgate, den Ertl als "Vater des englischen Erfolgs" bezeichnet. Als ehemaliger U21-Teamtrainer kennt er alle Spieler seit Jahren, weiß, was jeder kann. Und. Southgate lernt schnell aus Fehlern und bewies gegen Dänemark, dass er der Taktik alles unterordnet. Er wechselte Jack Grealish in der 69. Minute ein und nach der Führung in der 106. Minute wieder aus. Ausschließlich aus taktischen Gründen.

Maguire verdrängte Ertl

Ertl ist der Ansicht, dass Harry Kane ("Er ist genau zum richtigen Zeitpunkt in Form gekommen") heute als hängende Spitze agieren wird und damit die italienischen Innenverteidiger Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini herauslocken wird, "damit schnelle Spiele wie Raheem Sterling Platz haben". Sterling bezeichnet der Grazer als "Mann des Turniers für England. Er hat bei diesem Turnier das Heft in die Hand und Verantwortung übernommen", sagt Ertl. Und dann wäre noch die gute Verteidigung Englands. "Harry Maguire hat mich aus der Mannschaft gespielt. Meine Frau hat damals gesagt: ,Gegen den wirst du es schwer haben.' Sie hatte recht, sie hat eben Ahnung vom Fußball wie man sieht", sagt Ertl. Englands Verteidigung mit Maguire ist gut, hat bei der Euro nur ein Tor erhalten. "Und dass aus einem ruhenden Ball."

Die Erfolge haben die Leute in England geeint. Ertl: "Wenn man auf den sozialen Netzwerken sieht, wie es in den Pubs abgeht, ist das so schön zu sehen." Und die bekannt kritische Presse in England hat bislang ausschließlich positiv von der Nationalmannschaft berichtet. "Ich glaube, dass England Europameister wird", sagt Ertl, der sich das Finale zu Hause und "in aller Ruhe" anschauen wird.