Uns Fußballfans erwartet am Sonntag ein definitiv würdiges Finale einer für mich tollen Europameisterschaft. Italien und England werden nach einer langen Saison noch einmal alles in die Waagschale werfen.

Grundorganisation. Die Engländer agieren in einem 4-2-3-1 und treffen auf das italienische 4-3-3. Der marginale Unterschied der beiden Systeme findet sich im zentralen Mittelfeld. Das 4-2-3-1 ist etwas defensiver, weil man in dieser Formation mit zwei Sechsern und einem Zehner agiert. beim 4-3-3 gibt es nur einen Sechser und zwei Achter. Eine Überraschung ist wohl ausgeschlossen. Zwar haben die Engländer in der EM-Qualifikation sehr erfolgreich ein 3-4-3 praktiziert. Doch das wäre gegen Italien ein sehr hohes Risiko, weil das Spiel im Mittelfeldzentrum gewonnen bzw. verloren wird. Und in diesem Fall hätte man genau dort einen Spieler zu wenig.

Defensive Übermacht. Italien hat im Turnier bislang im Schnitt nur 8,5 Torschüsse zugelassen, England gar nur sieben. Anhand der 0,5 (Italien) bzw. 0,17 (England) Gegentore und des zugelassenen xG-Wertes (expected goals) von 0,93 (Italien) bzw. 0,8 (England) sieht man eindeutig, dass die Defensive beider Mannschaften überragend agiert. Bei Italien weisen Giorgio Chiellini (70 Prozent) und Leonardo Bonucci (60,5 Prozent) starke Zweikampfwerte auf. Gemeinsam bestritt dieses Duo schon 325 Spiele in der Innenverteidigung. Sie verstehen sich nach 26.780 Minuten Seite an Seite blind. Normalerweise bekommen Verteidiger Stress, sobald der Gegner dem eigenen Tor näherkommt. Chiellini und Bonucci wirken so, als ob ihr Puls in solchen Momenten sogar sinkt. Einer der besten Innenverteidiger der Welt ist Harry Maguire. Er ist das Um und Auf von England. Er verbindet Größe, Masse und Schnelligkeit. Seine Zweikampfquote von 77 Prozent ist überragend. Er gewinnt aber nicht nur die Zweikämpfe, sondern holt sich auch oft den Ball. Das ist ein absolutes Qualitätsmerkmal. Dazu kommt die starke Passqualität (91 Prozent) und seine offensive Kopfballstärke bei Standardsituationen. Seit er für England spielt, hat sich die Qualität noch einmal erhöht.

Offensive Philosophien. Beide Nationen basieren auf kontinuierlichem Positionsspiel. Italien und England versuchen, kontrolliert das Spiel aufzubauen. Die Engländer brauchen einen Spieler mehr im Aufbau, Italien baut nur auf Jorginho, den Taktgeber, Denker und Lenker. Das ist Vorteil und Risiko zugleich. Wenn Italien den Ball verliert, gibt es weniger Leute dahinter. Geht es auf, erhöht sich die Anzahl an Anspielstationen im vorderen Drittel. Entscheidend für beide Teams wird es sein, die Eins-gegen-Eins-Duelle auf den Flügeln zu gewinnen. Eine besondere Rolle hat bei England Harry Kane inne. Der Tottenham-Angreifer lässt sich gerne auf die falsche 9er-Position fallen. Somit schafft England im Zentrum eine Überzahl, die schwierig zu verteidigen ist. Da muss man irgendwo eine Ordnung aufgeben. Kane hat genau in so einer Situation das 1:1 gegen Dänemark eingeleitet, indem er aus dem Zehnerraum Bukayo Saka in die Tiefe schickte, der dann später den Querpass gab, den Simon Kjaer nur noch ins eigene Tor befördern konnte. Italien hat die Negativerfahrung schon gegen Spanien im Halbfinale gemacht: Das 1:1 von Alvaro Morata entstand genau nach dem selben Muster.

Schlüsselduelle. Genau auf den angesprochenen Flügelpositionen wird es zu den entscheidenden Duellen kommen. Die Engländer Kyle Walker und Luke Shaw müssen Lorenzo Insigne und Federico Chiesa, die mit ihren Tempodribblings auch immer wieder gerne nach innen ziehen, wo sie den Abschluss suchen, in Schach halten. Auf der anderen Seite fällt diese Aufgabe Emerson und Giovanni Di Lorenzo zu, die es mit Raheem Sterling und voraussichtlich Saka zu tun bekommen. Außerdem kommt den Torhütern eine entscheidende Rolle zuteil. Die Mannschaft, deren Goalie stabiler bleibt und keinen Fehler macht, hat sicher größere Chancen zu gewinnen. England Jordan Pickford agierte bislang solide, aber Italien hat mit Gianluigi Donnarumma sicher einen leichten Vorteil. Er hat ein super Turnier gespielt.

Roberto Mancini
Roberto Mancini © AFP

Schlüsselfaktoren. Bei zwei Mannschaften, die sich so auf Augenhöhe bewegen wie die beiden Finalteams, können Standardsituationen den ausschlaggebenden Punkt bedeuten, um das Spiel zu entscheiden. Beide Nationen haben ausgezeichnete Freistoßschützen und auch sehr starke und robuste Kopfballspieler. Deshalb wird es von großer Bedeutung sein, Fouls am eigenen Strafraum zu vermeiden. Englands Heimvorteil im Wembley kann auch hemmen. Die Italiener haben schon im WM-Halbfinale 2006 gegen Deutschland in Dortmund vor 80.000 Fans gezeigt, dass sie das in keinster Weise beeinflusst und sie kalt wie eine Hundeschnauze sind.

Die Trainer. Bei Italien hat Roberto Mancini das Positionsspiel seiner Mannschaft extrem angekurbelt. Verteidigen konnten die Italiener immer schon, jetzt kommt auch noch ein hochattraktives Offensivelement hinzu. In der EM-Qualifikation hat England einen attraktiven Offensivfußball mit hoher Intensität gezeigt. Das beherrschen die Engländer noch immer. Aber Gareth Southgate hat es geschafft, defensive Stabilität hineinzubringen. So sind sie sehr ausgewogen. Man kann definitiv sagen, dass beide Trainer in ihren Teams das Allerbeste aus zwei Welten vereint haben.

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