Unter normalen Umständen würde jetzt wohl jeder einen Stanley-Cup-Champion und über den bevorstehenden NHL-Draft sprechen. Doch die Welt sieht gerade etwas anders aus. Worüber berichten Sie im Moment?

In einer Woche findet die Draft-Lottery, dann sollten wir in etwa wissen, wie es um den NHL-Draft 2020 bestellt ist. Allerdings weiß man da erst sieben von 15 Mannschaften, die anderen acht sind die Verlierer der Qualifikationsrunde, die es im August nicht ins Play-off schaffen. Dann wird es eine zweite Draft-Lottery geben.

Also braucht es heuer viel Geduld, bis jedes Team weiß, wann es überhaupt seine Draft-Position weiß?

Korrekt. Sieben Mannschaften sind bekannt: Ottawa, Detroit, New Jersey, Buffalo, Anaheim, LA und San Jose - diese wissen dann, an welcher Stelle sie wählen. Aber von den anderen acht kennt man weder, wen sie ziehen, noch welche Teams es tatsächlich sind.

Es ist eine Situation, mit der wohl niemand gerechnet hat. In der NHL, wo das Resultat der abgelaufenen Saison so wichtig ist, um die komplizierten Mechanismen für die nächste Saison zu definieren und in Gang zu setzen...

So etwas gab es tatsächlich noch nie.

Von Ihnen werden ja wöchentliche Analysen erwartet. Wie schwierig ist es nun, Insider-Infos zu liefern - lange wusste ja niemand, wie es weitergehen soll?

Eigentlich wäre es mein letztes volles Arbeitsjahr gewesen. Ich wollte am 2. Juli in Pension gehen und mich nur noch den Weltmeisterschaften sowie den Draft-Rankings widmen. Die tägliche Berichterstattung wollte ich mit 1. Juli aufgeben. Und jetzt weiß niemand, welche Termine halten werden bzw. wie eine TV-Übertragung aussehen kann.

Am Montag erscheint ihr Draft-Abschlussbericht. Wird es zu großen Abweichungen gegenüber Ihres Jänner-Berichts kommen?

Im Grunde nicht. Alles andere als Alexis Lafreniere an der ersten Position wäre überraschend. Man kann schon jetzt nahezu sicher sagen, dass er von Start bis zum Ziel ganz oben zu finden sein wird.

Es gibt tausende Nachwuchsspieler in einem Jahrgang. Insbesondere in Ihrer Heimat Kanada. Wie bauen Sie einen Draftbericht auf?

Ich startete damit in den 1980er Jahren, als ich für "The Hockey News" publiziert habe. Damals gab es nichts. Zero. Ich begann als Erster aus journalistischer Sicht Draft-Rankings zu erstellen. Jetzt verfüge ich über zehn NHL-Scouts, darunter einige Chef-Scouts unterschiedlicher NHL-Teams. Sie platzieren die Spieler für mich. Daraus erstelle ich ein Gesamt-Ranking. Ihr Kriterium dafür ist, wo Spieler in ihrer Entwicklung zum Draft-Day gesehen werden. Ich sehe mich aber als Real-Scout. Das bedeutet, ich beurteile, wo ich den Spieler vom jetzigen Zeitpunkt an in fünf Jahren sehe. So funktioniert unsere Liste bei TSN. Es wird nicht darauf geachtet, wie tatsächlich gewählt wird, oder wie ein Spieler in einem Team funktioniert.

Wie groß ist die Abweichung ihres Rankings zum echten Draft?

(lacht) Ich bin ja ein bescheidener Mensch, darum formuliere ich es so: Es gibt Leute, die behaupten, dass es das beste Ranking ist. Aber es ist nicht perfekt. In einem schlechten Jahr stimmen von den 31 Draft-Picks immerhin 23, 24 überein. In einem guten Jahr schaffen wir es auf 27, 28. So in etwa ist die Bandbreite.

Erinnern Sie sich an Fehlschläge?

Es gab natürlich Spieler, die etwa im Bereich der 50. Position lagen und dann plötzlich in der ersten Draft-Runde gezogen worden sind.

Egal, wann der NHL-Draft 2020 stattfinden wird - aus österreichischer Sicht sollte es höchst interessant werden: Ihr Jänner-Report führte etwa Marco Rossi an siebenter Position. Warum?

Nun, Platz sieben ist grundsätzlich ja sehr hoch. Lassen Sie mich die positiven Aspekte anführen: Marco Rossi und Lafreniere haben späte Geburtstage, das kann ein Vorteil sein. Die Scouts haben die Spieler aber weder während WMs noch in den CHL-Play-offs gesehen. Sie haben sich also schon letzte Saison in die Köpfe der Scouts gespielt. Rossis Produktivität war beeindruckend, obwohl die Konkurrenz enorm war. Er nimmt das Spiel ernst, arbeitet hart, er will gewinnen und trainiert, um zu gewinnen. Er ist nicht groß, aber er verfügt über viel Kraft und über professionelle Ansätze in seinem Spiel.  Er hat die Fähigkeit, das Spiel sehr gut zu lesen und gestaltet es, kann aber auch Tore schießen. Einige Scouts sind bei ihm der Meinung: Was du siehst, bekommst du auch - also dass nichts mehr wächst. Er ist in seinem Spiel bereits geformt, mehr als Jüngere. Aber er ist sicher ein guter Top-Ten-Pick und wenn nicht, dann nicht viel davon entfernt.

TSN-Eishockey-Experte Bob McKenzie
TSN-Eishockey-Experte Bob McKenzie © TSN

Rossi hat die meisten Punkte gesammelt. Mehr als etwa Quinton Byfield oder Tim Stützle. Hat das zu wenig Aussagekraft?

Byfield ist 1,93 Meter groß und ist der typische NHL-Einser-Center. Großer Körper, ein guter Eisläufer, deckt den Puck ab, vielleicht nicht den großen NHL-Hockey-Sense aber Spielmacher-Fähigkeiten. Und er kann ein Spiel dominieren. In punkto Konsistenz ist Rossi möglicherweise besser. Einige Scouts hoffen, dass auch Rossi zu einem Einser-Center wird. Aber ich denke, dass er eher Zweitlinien-Center sein wird. Er ist nicht so dynamisch wie etwa Stützle. Der Deutsche ist ein Führungsspieler was Hände und Hockey-Sense betrifft. Es sind also die physische Komponente zu Byfield und die Dynamik zu Stützle - daher ist Rossi kein A+-Akteur für den Draft.

Nach Rossi sind auch die Österreicher Thimo Nickl, Benjamin Baumgartner und Senna Peeters im Rennen...

Ich kenne Nickl und er ist wahrscheinlich ab der dritten Runde interessant. Aber ich fokussiere mich ehrlich gesagt lediglich bis zum 62. Platz, also bis zur zweiten Runde. Ich bin ja kein Vollzeit-Scout.

Sie berichten ja für TSN auch von den Junioren-WMs. 2020 sollte sie in Edmonton/Red Deer ausgetragen werden. Österreich wäre qualifiziert. Was wird passieren?

Ich erwarte mir neue Informationen zu einem späteren Zeitpunkt im August. Hockey Canada und IIHF, also der internationale Eishockey-Verband, arbeiten an mehreren Szenarien. Es gibt Pläne mit vollem Haus und in dezimierter Form wie der Hälfte oder einem Viertel Fans. Oder sogar ohne Fans. Wenn es nötig sein sollte, könnte die WM von Edmonton nach Calgary übersiedeln und in den Einreichtungen von Hockey Canada ohne Fans ausgetragen werden. Also nur als TV-Veranstaltung. Aber vor dem Spätsommer dürfte keine Entscheidung getroffen werden.

Also etwa zu jenem Zeitpunkt, wenn die NHL fortgesetzt wird?

Ganz ehrlich? Es sind zu viele Fragezeichen. Es gab schon wieder positive Corona-Tests in Tampa und Arizona. Es hängt alles in der Luft. Wir wissen nicht genau, was in den nächsten zwei, drei Wochen noch passiert bis die Trainings-Camps beginnen.

Der NHL-Kollektivvertrag CBA läuft nächstes Jahr aus. Die Verhandlungen hinsichtlich neuen Kontrakts laufen. Erwarten Sie eine Art Corona-Klausel?

Es gibt noch viel Arbeit für die Verhandlungen. Aber dort wird das sicher eine Rolle spielen.

Erwarten Sie nachhaltige Veränderungen des Spielermarktes?

Das ist schwierig zu sagen. Jeder wird Stürmer oder Verteidiger auch in Zukunft benötigen. Aber die finanzielle Situation wird eine andere sein. Es kommen gute, einzigartige Spieler auf den Markt. Aber die neue Situation ist für viele dieser Industrie einfach schrecklich.

Die NHL. 31 Teams, hunderte Spieler, Trainer, Funktionäre, Scouts und dann die Nachwuchsligen - müssen sie 24/7 im Job sein? Bleibt irgendwann Zeit für Urlaub?

In einem normalen Sommer bleiben mir neun Wochen Zeit, meine Batterien aufzuladen. Dann schalte ich ab und widme meine Aufmerksamkeit nicht dem Eishockey oder was da passiert. Heuer ist alles anders, obwohl es mein letztes Jahr sein wird.

Sind Sie eigentlich auf sich allein gestellt oder verfügen Sie über ein Team, das im Hintergrund für Sie arbeitet?

Wir sind ein Team mit Darren Deger, Pierre LeBrun, Frank Seravalli. Alles Leute von TSN. Wir arbeiten zwar zusammen, aber jeder individuell. Jeder vertritt seine Meinung in eigenen Kolumnen oder auf Twitter. Es ist großartig mit solchen Persönlichkeiten gemeinsam zu arbeiten.