In Wien wurde zum ersten Mal die Zweistundengrenze im Marathon unterboten. Halten Sie die Leistung von Eliud Kipchoge für glaubwürdig?

HAJO SEPPELT: An den Spekulationen beteilige ich mich nicht. Grundsätzlich sehe ich solche Weltrekordversuche unter klinischen Bedingungen mit zwiespältigen Gefühlen. Ich verstehe, dass Wissenschaftler herausfinden wollen, wo die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit sind. Letztlich war der Lauf aber vor allem ein PR-Spektakel unter unnatürlichen Wettkampfbedingungen. Solch eine Höchstleistung ist aus meiner Sicht fragwürdig. Dem Sport ist das Austesten von Grenzen zwar eigen, aber genau das führt doch dazu, dass es auch das Dopingproblem im Spitzensport gibt. Immer wieder werden Grenzen herausgefordert und dann mit aller Konsequenz für den menschlichen Organismus überschritten. Dabei definiert sich der Sport nicht nur über Höchstleistungen. Allerdings läuft es häufig bei der Vermarktung darauf hinaus, dass allein der Rekord, der Superlativ zählt.

Es gibt den Vorschlag, Doping freizugeben. Was halten Sie davon?

SEPPELT: Das wäre so, als würde man sagen: Es gehen so viele Leute bei Rot über die Ampel - also lasst uns die roten Ampeln abschaffen! Nachvollziehbar ist die Diskussion nur insofern, weil vielen Menschen die Heuchelei auf den Geist geht. Es wird argumentiert, es ginge gar ehrlicher zu, indem man  einfach alles erlaubt. Wer diese Diskussionen führt, hat nicht an die Konsequenz gedacht. Wir würden den Spitzensport weiter pervertieren und menschliche Motoren züchten wie in der Formel 1. Nicht auszudenken auch die immens höheren Gesundheitsrisiken bei einem ungehemmten Dopingkonsum, den die Befürworter einer Freigabe befördern würden. Es würde den Sport nicht fairer sondern gefährlicher machen.

Wieso?

SEPPELT: Diejenigen, die am meisten in Forschungen investieren, würden Vorteile haben gegenüber denjenigen, die nicht das Geld haben. Bisher haben wir im Sport nur von Medikamentenmissbrauch geredet, also von Arzneimitteln, die im klinischen Alltag zugelassen sind. Dann aber würde eine Dopingindustrie entstehen ohne erforderliche Vorsichtsmaßnahmen wie klinische Studien, Testläufe und Forschung. Wir würde einen Wildwuchs an Mitteln erleben, ohne die Folgen für die Gesundheit zu kennen. Und wo bleibt die Vorbildfunktion für Jugendliche? Keiner kann mir dann erzählen, dass erst ein 18-Jähriger zu dopen beginnt. Ich halte das für eine brandgefährliche Debatte.

Sie schreiben in ihrem Buch "Feinde des Sports" wie der Staat Einfluss nimmt und Verbände Druck ausüben. Wie schwierig ist es als bekannter Journalist, gegen ein Bollwerk im Sport anzutreten, bei dem die Medien mitspielen?

SEPPELT: Es gibt weltweit keine Redaktion, die vergleichbare Möglichkeiten bekommt wie wir von der ARD, um auch die andere Seite der Medaille jenseits des Hochleistungs-Glamours zu zeigen. Ich bin offensichtlich in der Sportszene inzwischen recht bekannt. Es gibt Leute, die uns Informationen anvertrauen, weil man glaubt, dass wir mit Informationen seriös umgehen. Es gibt aber auch jene, die sagen, „was wollen die denn hier“, wenn ich irgendwo mit meinem Team auftauche.

Geben Sie ein Beispiel?

SEPPELT: Wenn wir etwas zu Russland publizieren, gibt es unter Athleten in Deutschland reichlich Schulterklopfen. Mit dem Zusatz: Schön, dass ihr das gemacht habt! Es wurde auch Zeit. Wenn wir aber in Deutschland oder Österreich recherchieren, merkt man sofort, wie man uns mit großem Vorbehalt begegnet. So wie beim Österreichischen Skiverband, der von mir sehr kritisch beäugt wird. Und umgekehrt vermutlich. 

Erklären Sie das?

SEPPELT: Im Fall Johannes Dürr war mein Eindruck, dass der ÖSV der klassischen Theorie des Einzeltäters gefolgt ist. Der Verband überließ aber Betreuern, die dem Dopingmillieu nahestanden oder als Täter entlarvt wurden, nach meiner Beobachtung eine ungewöhnliche Eigenverantwortung. Der Verband muss sich schon fragen, mit welchen Leuten er da zusammenarbeitete. Da habe ich in den Vergangenheit große Defizite gesehen. Ich habe mir sagen lassen, dass es Leute im ÖSV gibt, die nur sehr ungern sehen, wenn wir uns mal wieder mit Österreich beschäftigen.

Haben Sie Hinweise, dass man Sie aktiv behindert?

SEPPELT: So weit würde ich nicht gehen. Aber man versucht offenbar Druck auszuüben. Als ich etwa zu einer Podiumsrunde nach Österreich eingeladen wurde, ereilte den Veranstalter vorab ein Anruf, warum das denn sein müsse.  

Können Sie dieses Verhalten nachvollziehen?

SEPPELT: Es kommt bei Sportverbänden häufig vor, dass sie diejenigen, die sich mit Doping kritisch beschäftigen, stärker ins Visier nehmen als jene, die selber dopen. In Österreich glauben zudem manche, deutsche Journalisten würden auf einem Auge blind sein, wenn es um Doping in Deutschland geht. Ich kann nicht für andere Journalisten sprechen, aber für die ARD kann ich sicher sagen, dass dies nicht zutrifft. 

„Feinde des Sports“. Econ. 384 Seiten, 20,70 Euro.
„Feinde des Sports“. Econ. 384 Seiten, 20,70 Euro. © Econ Verlag

Sie zeigen im Buch auf, dass es auch an der Spitze der WADA krankt.

SEPPELT: Der Präsident der Welt-Anti-Doping-Agentur hat in der Russland-Aufarbeitung nicht den Eindruck vermittelt, dass er ein energischer Kämpfer gegen das systematische Doping im größten Land der Welt war. Man hat das Gefühl, dass er die Geschichte nur halbherzig angegangen ist. Später wurde er zum Jagen getragen. Allein schon als zwischenzeitlicher Vizepräsident des IOC und gleichzeitiger WADA-Präsident stand er in einem Interessenkonflikt und hat auch noch abseits der offiziellen Kanäle diplomatische Nähe zu Russland gesucht. Da fragt man sich, welche Rolle dieser Mann überhaupt spielte. Das war schon alles andere als überzeugend.

Warum ist das Staatsdoping in Russland so besonders problematisch?

SEPPELT: Doping ist ein systemimmanentes Problem des Hochleistungssports. Man könnte sagen, Doping ist eine Art Immunschwäche des Sports schlechthin. Der Sport leidet auch unter Korruption, Wettbetrug, Bestechungsgeldern bei der Vergabe von Großereignissen, sexuellem Missbrauch. Doch nur Doping ist der direkte Eingriff in die Integrität des Wettbewerbs an sich.

Wundert Sie das Zeigen auf Russland, obwohl es in Österreich oder Deutschland nicht viel besser läuft, wie sich immer wieder zeigt?

SEPPELT: Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass es heutzutage in Deutschland oder Österreich ein großes staatlich gefördertes oder vom Staat betriebenes Doping-System gibt. Die Russland-Dimension ist also schon eine sehr viel größere. Aber das bedeutet nicht, dass man mit dem Finger allein auf Russland zeigen sollte. Über Jahrzehnte war die Geschichte des Dopings eine Geschichte der Vertuschung, egal ob in der alten Bundesrepublik, in der DDR, China, den USA, Russland, Kenia, Spanien - um nur einige Länder zu nennen. Auch Österreich war wahrlich kein Unschuldsengel, wie wir längst wissen. 

Warum ist das so?

SEPPELT: Weil bessere Leistung durch unentdecktes Doping die Attraktivität des Wettbewerbs erhöht. Davon profitieren alle. Die Athleten, weil sie höhere Siegprämien und Sponsorengelder bekommen. Der Manager, der über diese Verträge und Siegprämien höhere Provisionen einfahren kann. Der Veranstalter, weil mehr Zuschauer kommen und das Fernsehen länger überträgt, wodurch er mehr Sponsoren gewinnen kann, die wiederum auch Athleten und Verbände bezahlen. Der Sponsor, weil er seine Produkte besser verkaufen kann, wenn er länger im Fernsehen zu sehen ist. Der Sender, weil er höhere Einschaltquoten hat und Werbezeiten besser verkaufen kann. Der Verband, weil er neben den Sponsorengeldern auch mehr Sportunterstützung von der Politik bekommt, die sich im Medaillenglanz sonnen kann. Die Ärzte und Trainer profitieren durch bessere Arbeitsverhältnisse, durch tolle Dienstreisen und zusätzliche Aufträge. Alle haben etwas davon, solange Doping stattfindet, aber unentdeckt bleibt. Es ist eine Win-Win-Situation für alle. Wenn es nun umgekehrt kommt, verlieren alle. Wenn man nüchtern bilanziert, ist es im Sinne aller, wenn Doping nicht auffliegt. Die Geschichte der Vertuschung ist ein Beleg dafür, dass es nicht darum geht, Doping zu bekämpfen, sondern nur den öffentlichen Diskurs darüber zu verhindern.

Ist den Zuschauern bewusst, dass solche Höchstleistungen ohne medizinisch-chemische Trainingsunterstützung nicht möglich sind?

SEPPELT: Gute Leistungen sind schon möglich. Aber die Frage ist doch: Ist „höher, schneller, weiter“ so wichtig? Warum gibt es ständig Rekorderwartungen? Sie werden benutzt, weil sie den Wettbewerb attraktiver machen. Die Leute wollen Höchstleistungen, heißt es dann immer. Ich bezweifle diese Eindimensionalität des vermeintlichen Publikumsdenkens. Aber sicher stimmt auch: Manche Fans wollen sich in der Tat den Spaß nicht verderben lassen. 

Lässt man sich also bewusst belügen?

SEPPELT: Es lassen sich immer weniger Leute bewusst belügen. Die kritische Masse ist in den vergangenen  Jahren größer geworden. Unter anderem auch durch unsere Berichterstattung, weil wir die dunkle Seite der Medaille zeigen. Natürlich wollen das nicht alle gleichermaßen, manche im Publikum interessieren sich vermutlich nicht für die Art der Berichterstattung, wie sie die ARD-Dopingredaktion macht. Aber das ist doch auch völlig okay. Ich verweise dann darauf, dass in Deutschland auch nur vielleicht fünf Prozent der Menschen in die Oper gehen und trotzdem ernst genommen werden müssen. Wir haben nach meinem Eindruck inzwischen sogar eine nicht unbedeutende Unterstützung im Publikum. Und auch wenn uns manche noch immer als Spielverderber im Sport sehen mögen: Meine Aufgabe ist es nicht, dem Publikum zu gefallen und für angenehme Unterhaltung zu sorgen, sondern als Journalist Dinge beim Namen zu nennen.

Haben Sie nach ihren Recherchen konkrete Drohungen bekommen?

SEPPELT: Ja, die gab es gelegentlich und deshalb passen mitunter Leute auf mich auf im öffentlichen Raum. Während des Russland-Skandals waren die Anfeindungen auf dem Höhepunkt, manchmal tatsächlich sehr unerfreulich. Jemand hat im Internet eine Adresse von mir gepostet und geschrieben, dort müsst ihr hingehen. Jemand anderes schrieb, ich sollte auf meine Familie aufpassen. Ich bin auch nicht zur Fußball-WM nach Russland gefahren, weil die Sicherheitsbehörden der Auffassung waren, das ich mich irgendwelchen Repressalien der Behörden oder anderen Menschen ausgesetzt sehen könnte. Ich kann nicht einschätzen, wie groß das Risiko wirklich ist und muss manche Dinge beherzigen. Es gehört zu meinem Beruf, dass ich Leuten auf die Finger schaue oder auf den Schlips trete und diese Menschen dann entsprechend dünnhäutig reagieren. Manche machen einen Bogen um mich, manche begrüßen mein Tun. Aber mit dem Spannungsfeld kann ich gut leben.

Können sie eigentlich noch vorbehaltlos Sport schauen?

SEPPELT: Das kommt darauf an. Es gibt Doping-affine Sportarten, wo der Glaube schon schwer fällt, dass es mit rechten Dingen zugeht. Da schaue ich nur zu, wenn es quasi berufsbegleitend nötig ist. Wir sollten als TV-Macher ehrlich sein: Viele Jahre lang haben wir – unter Fernsehleuten muss man sich ja nicht in die Tasche lügen – weltweit großflächig Sportbetrug übertragen, ohne das irgendwie kritisch zu hinterfragen. In den vergangenen Jahren ist der Umgang mit dem Dopingproblem ein anderer geworden, weil der Druck gewachsen ist. Es wird vermutlich sogar tendenziell weniger gedopt als noch vor zwanzig, dreißig Jahren. Die Öffentlichkeit hat aber den Eindruck, dass das Problem größer wurde. Ich glaube nicht, das dies so ist. 

Nicht?

SEPPELT: Es ist nach meinem Eindruck etwas zurückgegangen, weil man nicht mehr völlig unkontrolliert handeln kann. Als Sportler muss man sich immer gewahr sein, dass irgendwelche Staatsanwälte, Ermittler oder Journalisten um die Ecke kommen. Früher war die Situation krasser, heute redet man halt mehr darüber. Die Öffentlichkeit bekommt das Thema von uns viel häufiger serviert. Die Redaktionen rücken dieses Thema eher in den Fokus. Und das finde ich gut und wichtig.

Also kein Sportfan?

SEPPELT: Sportfan war ich nur bis zum Alter von elf oder zwölf Jahren. Sportreporter wurde ich, weil ich mit Leib und Seele Journalist bin und Sport als Fläche für mich gesehen habe, zumal ich selbst Schwimmer war. Sportjournalismus ist ein gutes Betätigungsfeld zum Erlernen des Handwerks. Aber eine kritische Distanz hatte ich eigentlich immer. Sie hat nur noch sehr zugenommen, als ich mitbekam, wie man Themen wie Doping, Korruption und Machenschaften im Sport unter den Teppich kehren wollte - manchmal auch bei eigenen Kollegen. In Deutschland und Österreich gibt es durchaus bei manchen die Tendenz, Doping oder andere schwierige Themen aus der Berichterstattung auszublenden. In Teilen des Sportjournalismus ist eine klebrige Kumpanei zu erkennen, die manchmal bedenkliche Dimensionen hat. 

In Österreich ist der Skisport vergleichbar mit dem Fußball in Deutschland, da schwingt im Journalismus sogar ein gewisses Nationalbewusstsein mit.

SEPPELT: Man sagt in Österreich, die Leute seien verhabert. Dieser Begriff trifft es recht gut. Mir ist schon aufgefallen, dass Skisportler oft kritiklos gefeiert werden. Aber ist es die Aufgabe von Journalisten, irgendwelche Nationalhelden zu feiern? Die Grenzen sind für mich dann überschritten. Das Phänomen kenne ich aber auch aus Deutschland und anderen Nationen. Es mangelt manchen in unserer Branche schlicht an kritischer Distanz gegenüber den Superhelden des Sports.