Ausatmen: "Zwischendurch braucht es Expiration, das Aus­atmen, dabei ein Pfeifen auf fast alles."
Ausatmen: "Zwischendurch braucht es Expiration, das Aus­atmen, dabei ein Pfeifen auf fast alles." © Puch Johannes
Buchtipp: „Nil“ von Anna Baar, Wallstein-Verlag, Göttingen 2021. "Hochkomisch" und "einer der eigensinnigsten Romane der letzten Jahre" (Katja Gasser, ORF-Literatur­chefin)
Anna Baar, geboren 1973 in Zagreb, aufgewachsen in Klagenfurt, Wien und auf der Insel Brač. Ihr Debütroman „Die Farbe des Granatapfels“ stand drei Monate auf Platz 1 der ORF-Bestenliste. Für „Als ob sie träumend gingen“ erhielt sie den Theodor-Körner-Preis, 2020 den Humbert-Fink-­Literaturpreis der Stadt Klagenfurt.
Anna Baar, geboren 1973 in Zagreb, aufgewachsen in Klagenfurt, Wien und auf der Insel Brač. Ihr Debütroman „Die Farbe des Granatapfels“ stand drei Monate auf Platz 1 der ORF-Bestenliste. Für „Als ob sie träumend gingen“ erhielt sie den Theodor-Körner-Preis, 2020 den Humbert-Fink-­Literaturpreis der Stadt Klagenfurt. © Puch Johannes

Mit welchem Gefühl bringt man ein Manuskript, das so viel „Eigenfarbe“ hat, in den Verlag? Und wie hat dieser reagiert?

Anna Baar: Thorsten Ahrend bekommt immer erst Post von mir, wenn etwas für den Augenblick fertig ist. Immer hab ich beim Abschicken weiche Knie vor Scham und Unverschämtheit. Er kennt mich inzwischen und weiß, dass ich es nicht gut sein lassen kann, am Manuskript weiterwurstle, bevor er zu lesen beginnt. Thorsten ist ein großer Mensch und nicht umsonst einer der angesehensten Lektoren im deutschsprachigen Raum. So einer lässt viel zu, lässt sich bis zum Äußersten ein, fängt einen aber verlässlich, sobald man zu straucheln beginnt. Er mochte Nil, trotz aller Fragen, die sich ihm stellten, weil er ja, im Unterschied zu mir, auch den Leser im Auge behält. Dass er auf Antworten und Erklärungen verzichtet und kaum in den Text eingegriffen hat, rechne ich ihm hoch an.

Ist „Nil“ unter einem besonderen Eindruck entstanden?
Beeindruckend war die Erschöpfung gleich zu Beginn, die Angst, mir zu viel herauszunehmen und zuzumuten in diesem Schreibvollrausch, der mich auch körperlich an die Grenzen gebracht hat. Danach brauchte ich Physiotherapie, um den Kopf wieder frei bewegen zu können.

Sind Sie eine planvolle oder eine intuitive Schreiberin?
Im Planen und Aus­hecken bin ich schlecht. Mir bleibt nur, möglichst früh am Morgen an den Traumzustand anzubändeln, in dem sich Figuren und Geschichten quasi von selbst entspinnen. Ich sehe mich mehr als Zeuge denn als Urheber, bin höchstens Spielleiter und manchmal Spielverderber. Es liegt an mir, dazwischenzurufen, wenn alles außer Rand und Band gerät.

Worum geht es Ihnen beim Schreiben?
Um alles und nichts.

„Wozu die Sehnsucht stillen, wenn sie der Antrieb ist?“ Was ist der Antrieb für Ihr Schreiben?
Das Mich-Zurechtfindenwollen in der Welt.

Wie und warum sind Sie Schriftstellerin geworden?

Schreiben war nie Berufswunsch, aber sehr früh Hauptbeschäftigung – und in der frühen Jugend die einzige Möglichkeit, das einsame, selbstzweiflerische Ich durch einen heroischen Avatar zu ersetzen. Einige meiner tapferen Weggefährten habe ich damals mit seitenlangen Briefen traktiert, anderen langatmige Lesungen aus meinen Notizheftchen zugemutet. Eine meiner liebsten Schulfreundinnen ließ so ein Theater während einer Chorwoche bei einem gemeinsamen Bad über sich ergehen. Wir stiegen erst aus der Wanne als der Badeschaum restlos zerplatzt und das Wasser abgekühlt war. Ich liebe sie dafür, nicht Rache geübt zu haben.

Ihre Großmutter, prägend im Buch „Die Farbe des Granatapfels“, stammt von der Insel Brač, Ihre Mutter ging zum Studieren nach Wien, Sie leben in Klagenfurt, Wien und auf der Heimat­insel. Wie schaut Ihr Leben zwischen diesen Orten derzeit aus?
Wer das Glück hat, an mehreren Orten zuhause zu sein, lebt nie heimwehlos. Jetzt hauptsächlich in einem Land festzusitzen, in dem es den Leuten viel besser geht als anderswo, ist ein Privileg.

Sie sagen, dass „Nil“ unter Ihren Büchern Ihr Liebkind sei. Was hat es, was die anderen nicht haben?
Nil ist von meiner Lebensgeschichte weggeschrieben – und mir gerade deshalb näher als alles Bisherige. Es ist draufgängerisch und rücksichtslos, aber verwegen und witzig. Vom Horror zum Komischen ist es meist nur ein winziger Schritt.

Was lesen Sie gerade? Was hat Sie in letzter Zeit inspiriert?
Seit Wochen schaue ich jeden Abend mindestens einen Krimi. Zum Lesen geht mir zu viel im Kopf herum. Inspiration muss man abwimmeln, solange im Oberstübchen Unordnung ist und man ihr kein gemütliches Gästezimmer anzubieten hat. Zwischendurch braucht es Expiration, das Aus­atmen, dabei ein Pfeifen auf fast alles.

Mein Eindruck ist, dass Nil auch eine Resonanz auf Peter Handkes Schreiben ist. Wäre es ohne intensive Handke-Lektüre denkbar?
Kennen Sie das Video „Breathe“ von The Prodigy? Der Bartl könnte den Most ebenso gut von dort geholt haben. Aber neulich hat’s mich doch gerissen, als ich wieder in der Niemandsbucht las. Da schreibt Peter Handke an einer Stelle von seinem Dämon als seinem „Verhinderer“, nennt ihn „das Krokodil in meinem Herzen, das Antifabeltier“. Wir melken alle dasselbe All, ob als Genies oder Dilettanten.

An einer Stelle heißt es: „Die meiste Kraft geht dafür drauf, zu tun, als sei ich normal.“ Wie sehr trifft dieser Satz auf Sie selbst zu?
Sehr! Aber es erscheint zum Glück nur noch selten notwendig, ­„normal“ zu tun.

Sie sind Mutter und Tochter. Wie wird der Muttertag in Ihrer Familie begangen?
Wie jeder andere Sonntag. Frauen bringen auch ohne Uterus allerhand zur Welt. Der Kult ums Gebären, die Sicht auf den Unterleib als erstrangiges weibliches Schöpfungsorgan, ist genauso erbärmlich wie die Fantasie von der unbefleckten Empfängnis. Die Sträuße, Bonbonnieren und ans Bett servierten Kipferln, mit dem Mütter einen Tag lang wie Sieche gehätschelt werden, an denen es eine Schuld zu begleichen gilt, setzen Mutterschaft mit Aufopferung und Opferschaft gleich. Dabei birgt sie eine beispiellose Machtfülle, die unweigerlich zu Übertretungen führt. Vielleicht werde ich den Muttertag zum Anlass nehmen, den Söhnen für ihre Nachsicht zu danken. Mama kriegt Schokobananen.

Können Sie sich vorstellen, dass ein alter schwarzer Mann Ihr Werk übersetzt?
Sollten Alter oder Hautfarbe eine Rolle spielen?

Am Ende angelangt, ist man die Geschichte nicht los. Man kann „aussteigen“, und weiß, will man daraus klug werden, sollte man jetzt von vorne zu lesen beginnen. Rezensenten haben das, anerkennend, als „dämonisch“, „durchtrieben“ beschrieben und davon gesprochen, dass der Text seine Leser verschlingt. Ist das ein bewusst konstruiertes Verwirrspiel? Ist es Spiel oder bildet das Rätselhafte, die Surrealität, eine Art von psychischer Erfahrung ab?
Ich wollte nur ein Krokodil freilassen und schauen, was passiert. Jetzt verschlingt es angeblich einen nach dem anderen und ist trotzdem im Streichelzoo gelandet. Ich sag mir: Aus Geschichten muss man nicht klug werden. Nur aus Schaden.