Auf dem British-Airways-Flug nach London sitzt auf Platz 27F ein junger Mann im weißen Hemd, der versucht, etwas Schlaf zu finden. Zwei mitreisende Briten können gar nicht glauben, dass es der waschechte österreichische Außenminister ist, der sich hier wie jeder Normalbürger in die Economy-Sitzreihe zwängt.

Sebastian Kurz ist der bisher jüngste und wohl auch schnörkelloseste Inhaber dieses Staatsamtes. Am Gate D63 des Wiener Flughafens hat er zuvor noch für einige Selfie-Fotos posiert, denn Wahlkampf ist in diesen Tagen überall. Die umstandslose Art des Reisens verursacht Strapazen und birgt Risiken: Seinen unbedachten Mittelmeer-Sager „Der NGO-Wahnsinn muss beendet werden“ tätigte Kurz vergangenen März bei einem raschen Briefing um sechs Uhr früh – nach zwei Nächten hintereinander im Flugzeug. Ausgeschlafen hätte er es vermutlich anders formuliert, gesteht er.

Die steile Politkarriere des ÖVP-Senkrechtstarters hat ihm bisher schon jede Menge Ruhm und Ärger eingetragen. Den Staatssekretärsposten mit 24 traute ihm zunächst niemand zu. Immerhin war über seine politischen Jugendsünden („Geilomobil“) noch kein Gras gewachsen. Unterhaltungskünstler, Profilierungsneurotiker – so nannten ihn manche Medien. Seine Bestellung sei eine „Verarschung“, stand in einem Zeitungskommentar.

Kurz behielt die Nerven. Doch auch bei seinem Avancement zum Außenminister schüttelte mancher Diplomat den Kopf. Kurz war damals 27 – ein Alter, in dem Henry Kissinger gerade erst seinen Bachelor machte (Janis Joplin, Amy Winehouse und Kurt Cobain waren in diesem Alter allerdings schon tot, wie ein Journalist der „Presse“ schrieb.)
Vielleicht ist es dieser stete Gegenwind, der den ÖVP-Chef subjektiv immer noch ein bisserl schneller erscheinen lässt. Seit er im Frühjahr seine Partei völlig umgekrempelt hat und sich ernsthaft anschickt, der SPÖ das Bundeskanzler-Abonnement zu entreißen, wird er in den eigenen, nun türkis gefärbten Reihen als sakrosankter Überflieger wahrgenommen.

Letztes Wochenende platzt Kurz mit Verspätung in den Parteitag der steirischen ÖVP in Graz, und sofort erbebt der ganze Saal unter stehenden Ovationen. „Sie können uns beschimpfen, aber Sie können uns nicht aufhalten“, tönt der Kandidat in Richtung SPÖ.
Später, beim „Fest mit Sebastian Kurz“ auf der Grazer Messe, wird der Parteiliebling im Ansturm Hunderter Fans minutenlang gegen die Bühne gedrückt. Jeder will ein Foto: Ortsparteifunktionäre, Parteitagsdelegierte, Nationalratskandidaten. Sogar die Landesschulratspräsidentin und die ÖVP-Landtagspräsidentin stellen sich um ein Selfie an.

Kurz ist hier der perfekte Selbstvermarkter, lächelt geduldig in jede Linse, beugt sich zu Kindern hinunter, nimmt Lebkuchenherzen in Empfang. Doch die wenigen Reporter, die inhaltliche Auskünfte wollen, holen sich eine Abfuhr. „Hätten Sie eine Antwort für mich?“, fragt ein junger Mann mit Hut und gezücktem Mikrofon. Kurz wendet sich routiniert ab. Auch das ZDF-Satire-Magazin „heute-show“ ist angereist und nervt ihn jetzt gnadenlos mit frechen Fragen: „Muss sich Deutschland an Österreich anschließen, wenn Sie eine Regierung mit der FPÖ bilden?“

Das Fest ist bis 17 Uhr angesetzt, doch schon um 14 Uhr drängt die Kurz-Entourage zum Aufbruch. „Danke schön, danke schön“, brüllt ein Begleiter und versucht beharrlich, dem Umjubelten einen Weg zum Ausgang zu bahnen. Endlich erreicht Kurz den rettenden Bus. „Flüchten Sie doch nicht!“, ruft ihm der ZDF-Juxreporter hinterher. „Oder sind das wieder diese Flüchtlingsbusse, die ihr uns über die Grenze schickt?“
Die Medien würden ihn „hinrichten“ – das war schon seine Angst an jenem Junitag des Jahres 2011, als ihm der damalige ÖVP-Chef Michael Spindelegger völlig überraschend das Regierungsamt als Staatssekretär offerierte. „Das war der Moment, in dem ich verfallen bin“, denkt Kurz zurück. „Du kannst es dir noch 30 Minuten überlegen, aber es steht schon im Internet“, sagte Spindelegger.

Die größte Sorge damals sei gewesen, gar keine Chance zu bekommen, sagt Kurz. Wenn er von seinem Werdegang erzählt, hört man das Bemühen heraus, nur ja nicht als behüteter Sohn aus irgendwie privilegiertem Hause zu erscheinen. Aufgewachsen ist er in Wien-Meidling, die Eltern sind Mittelschicht: die Mutter Lehrerin für Deutsch und Geschichte, der Vater HTL-Ingenieur.
In seiner Schulklasse gab es 50 Prozent Migrantenkinder: „Viel normaler kann man nicht aufwachsen.“ Dass er mit 16 bei der Jungen ÖVP andockte, nennt er heute Zufall: „Ich habe dort niemanden gekannt.“ Für den Grundwehrdienst entschied er sich „nicht aus ideologischen Gründen“, sondern weil der kürzer war als der Zivildienst. So konnte Kurz schon im nächsten März das Jus-Studium aufnehmen. Nur zwei Prüfungen fehlen ihm heute – ausgerechnet Verwaltungs- und Verfassungsrecht, also jene Materien, die er täglich managt.
Kurz spricht auch unter vier Augen druckreif, er ist fraglos ein großes politisches Talent. Aber in vielem, was er sagt, bleibt er glatt und unnahbar. Berufswünsche als Kind? „Alles Mögliche.“ Ist Kurz religiös? „Ich glaube an Gott in einem normalen Sinn.“ Pläne für die Zeit nach der Politik? „Ich habe früh gelernt, dass das Leben nicht planbar ist.“ Ist die türkise ÖVP-Reform irreversibel? „Das kommt aufs Wahlergebnis an. Man ist immer nur so stark, wie einen der Wähler macht.“ Und warum überhaupt türkis? „Hellblau hatte ich immer in meiner Kampagne, der Grafiker hat es dann eine Spur aufgefrischt.“

So wird dann Kurz’ Hinweis, als Student Tennisstunden gegeben zu haben, zum beinahe intimen Bekenntnis. „Er ist wie Teflon“, sagt FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache über den Konkurrenten. Erst auf die Frage nach Reinhold Mitterlehner kommt etwas Leben in den Nachfolger: „Ich habe das nie befeuert, dass ich ihn ablöse.“ Bis knapp vor Schluss sei man gemeinsam mittagessen gewesen, habe „offene Gespräche“ geführt.

Kurz ist kein Morgenmensch, das frühe Aufstehen macht ihm zu schaffen. Aber im Flugzeug kann er hervorragend schlafen, erzählt er: „Ich werde oft erst munter bei der Erschütterung der Landung.“ Nächster Touchdown: Sonntag.