Herr Sloterdijk, Sie haben viele Jahre lang in Wien gelebt. Wie nehmen Sie die gegenwärtigen politischen Turbulenzen in Österreich wahr?
PETER SLOTERDIJK: Meine erste Reaktion war eine Art von Erstaunen - nicht darüber, dass so enthüllende Dokumente über den Herrn Strache aufgetaucht sind, sondern dass solche Kettenreaktionen folgen konnten. Das habe ich als etwas sehr Österreichisches empfunden.

Inwiefern österreichisch?
Im Grunde erscheinen diejenigen, die den Skandal aufgedeckt haben, am Ende als die Schuldigen, und der Belastete erfährt aufgrund der Tatsache, dass er belastet ist, einen emotionalen Freispruch seitens zahlreicher Zeitgenossen. Das hat vermutlich mit einem weitverbreiteten Element von Denunziantentum zu tun. Ich habe mir vor einigen Jahren wieder einmal den Film „Der dritte Mann“ angesehen, der im besetzten Wien der Nachkriegszeit spielt. Da lässt sich viel über den österreichischen Nationalcharakter wienerischer Färbung erfahren.

Wie ist der österreichische Nationalcharakter denn so?
Er bestand immer aus einer Mischung von Nichts-gewusst-Haben und Hausmeisterwinselei. Alles in allem handelt es sich nicht um die schönsten Eigenschaften, die sich beim Homo sapiens herausgebildet haben.

Ist die Heftigkeit des Bebens, das Österreich erschüttert, Symptom einer größeren Verwerfung?
Im Moment verschieben sich in der europäischen Öffentlichkeit die tektonischen Platten, deren Lage zueinander die Stabilität der Welt garantierte. Eliten und Volk haben lang in gottgewollter Arbeitsteilung existiert. In dem großen Plan aller Dinge hatten sogar die Armen einen Platz, der so wohldefiniert war, dass sie nicht auf den Gedanken kamen, ihr Dasein infrage zu stellen.

Und das ist nun Geschichte. Sind die Menschen deshalb so reizbar?
Die zunehmende Irritabilität hat damit zu tun, dass sich die Menschen als Nachwirkung der Aufhebung der Ständeordnung ungeschützt im globalen Direktvergleich mit Zeitgenossen messen. Das überfordert sie und macht sie unzufrieden, weil sie die alte Glücksregel nicht mehr befolgen, die noch meine Großmutter verinnerlicht hatte: Vergleiche dich nur mit Leuten, denen es schlechter geht als dir selbst. Aber seit ohne Grenzen über die Personalien der Wohlhabenden kommuniziert wird, wird das Sich-Vergleichen zum Kraftwerk, in dem Ressentiments destilliert werden.

Wie würden Sie die Grundstimmung in Europa beschreiben?
Es ist ein merkwürdiges Amalgam aus kollektivem Pessimismus und privatem Optimismus. Obwohl es sehr vielen unverhältnismäßig gut geht, fühlt sich der einzelne Citoyen und Staatsgenosse düsteren Perspektiven im Großen verpflichtet. Man wagt es nicht, von der persönlichen Zufriedenheit auf die Weltläufte zu schließen. Dazu ist zu vieles angekündigt worden, das in heftigem Kontrast steht mit der persönlichen Ausgeruhtheit.

Das größte politische Minenfeld in Europa ist wohl die Migration. Teilen Sie das Unbehagen?
Die Migration ist in Gang geraten, als sich die Europäer vom 18. Jahrhundert an das Recht genommen haben, alle anderen Weltteile nicht nur zu besuchen, sondern sich dort als neue Herren in Vorschlag zu bringen. Das hat Gegenverkehr ausgelöst. Was wir heute in der ganzen nichteuropäischen Hemisphäre des Planeten erleben, ist ein Nachholen der europäischen Entagrarisierung und Urbanisierung des 20. Jahrhunderts. Überall in der Welt ziehen die Menschen von den dörflichen Lebensverhältnissen weg und tauschen die Aussichtslosigkeit des Landlebens gegen die Unbequemlichkeit des Lebens in der Suburbia. Es ist ein Tausch von Elend gegen Elend. Dass unsereins in Europa die Ausläufer davon zu Gesicht bekommt, geschieht immer noch in einem Zustand der Verschonung. Die wirklich großen Wanderungen spielen sich innerhalb der großen Länder ab, in China und Indien, wo Hunderte Millionen in Bewegung geraten sind. Die kommen alle nicht nach Europa. Die Inder und Chinesen, die wir bei uns sehen, sind jene, denen der Aufstieg in die respektiven Mittelschichten bereits gelungen ist und die uns mit indischen und chinesischen Urlaubsfliegergesellschaften besuchen.

Sie halten die Migration für eine viel geringere Bedrohung als behauptet. Wie steht es mit der Renaissance des Nationalen?
Ich versuche seit 30 Jahren, die nationale Fiktion mit den Mitteln romantischer Ironie zu durchlöchern. Es ist eine Tatsache, dass Menschen irgendwo zur Welt kommen. Daraus entstehen elementare, unschuldige patriotische Empfindungen, die im 19. Jahrhundert zur Waffe im imperialen Wettbewerb aufgestachelt wurden. Mittlerweile haben die Europäer alle ihre Kolonien verloren. Ihre Nationen sind gedemütigte Imperien.

Laboriert Europa noch immer am Phantomschmerz?
Die meisten EU-Staaten sind Amputationspatienten, die statt Imperien Mitgliedsausweise haben. Die Demütigung sitzt tief und wird von den Populisten bewirtschaftet. „Phantomschmerz“ trifft es ganz gut, weil etwas wehtut, das man nicht mehr hat. In einem Film habe ich einmal gesehen, wie sich ein Mann, dem ein Arm fehlte, krümmte vor Schmerzen, die er dort empfand, wo es nichts mehr gab. Interessanterweise bestand die Therapie darin, dass man das Gehirn mit Spiegeln überlistete, sodass der Schmerz wegging. Wir bräuchten auch für Europas Populisten eine spezielle Neurologie, die ihnen über ein System von Spiegeln eingebildete Vorteile im Imaginären zurückgibt.

Kann Europa an den Salvinis und Le Pens zerbrechen?
Ich gebe dem keine große Wahrscheinlichkeit, da es keine glaubhaften Mehrheiten dafür gibt. Die labile Mischung aus privater Zufriedenheit und öffentlicher Unzufriedenheit wird dazu führen, dass das Wahlverhalten in der Zukunft auf quantitativer Ebene nicht allzu viel Wahnsinn mehr zulassen wird.

In Österreich herrscht ein seltsames Interregnum. Trifft das nicht auch auf Europa als Ganzes zu?
Wir alle haben in der Schule von der Machtpause gelernt, die entstand, als der letzte Staufer hingerichtet worden war und der erste Habsburger noch nicht da war. Das ist die berühmte Zeit des Interregnums im 13. Jahrhundert, die kaiserlose, die schreckliche Zeit, als die Figur, in der sich der Ortungsglaube verkörpert, über eine Spanne von mehreren Jahren unausgefüllt blieb. Das hat die Menschen beunruhigt. Wir wissen auch heutzutage nicht genau, wer so eine Rolle ausüben könnte. Angela Merkel hat das zeitweilig zustande gebracht, aber um den Preis einer tiefgehenden Entpolitisierung. Jetzt erfolgt der Gegenschlag. Man spricht der Kanzlerin immer mehr die Fähigkeit ab, Beruhigung hervorzurufen.

Erklärt das die Sehnsucht nach Politikern wie Sebastian Kurz?
Ja, aber mit Kurz kann so etwas nicht gehen, weil er nur charismatisch wirken könnte. Die Gravitas, die ein echter Beruhigungspolitiker braucht, um in einem Effekt asymmetrischer Demobilisierung die eigenen Leute wach zu halten und den Gegner einzuschläfern, die hat er noch nicht. Es ist eher so, dass er den Gegner wachhält und seine eigenen Leute nicht genug mobilisieren kann. Das kann sich aber jetzt ändern bis zum Herbst.