So hat sie sich das bestimmt nicht vorgestellt. Nach Downing Street Nr. 10 – ins Amt der Premierministerin – zu gelangen, war Mays Berufswunsch Nummer eins. Geschafft hat sie es, doch der Preis, den sie dafür in diesen Tagen bezahlt, ist hoch. Was war das für ein Gegröle und Gejohle, für eine Niederträchtigkeit aus Spott und Häme, die ihr im Parlament auch von einigen aus ihrer eigenen Partei entgegenschlugen – zuerst, als sie ihren Brexit-Deal mit Brüssel präsentierte, und wenig später, als sie die Abstimmung darüber verschob. Als „strenge Oberlehrerin“ war sie oftmals vom britischen Boulevard beschimpft worden. Gestern Abend bliesen die Hinterbänkler der Tories wie trotzige Schülerbuben zur Revolte, um May mit einem Misstrauensvotum aus dem Amt zu befördern. Sie hat sich noch einmal durchgesetzt. Doch wie es mit ihrem Brexit-Abkommen weitergehen soll, bleibt so ungewiss wie zuvor.

Sie wetzen die Messer

Man muss sich das einmal vorstellen: Ein Land steuert, unter höchstem Zeitdruck, auf die folgenschwerste politische Entscheidung seit Jahrzehnten zu; die Bevölkerung beginnt, Medikamente und Lebensmittel für den Fall eines harten Brexits zu horten. Und die Hardliner unter den Tories haben nichts Besseres zu tun, als ihre Chefin zu bekämpfen. Seit Wochen wetzen sie die Messer – obwohl auch ohne Theresa May kein neuer Brexit-Deal und keine Mehrheit im Unterhaus am Horizont erscheinen würden.

May, so scheint es zumindest, bleibt von all dem ungerührt. Sie werde kämpfen bis zuletzt, ließ sie ihren Gegnern kühl ausrichten. Und im Übrigen seien derzeit wichtige Dinge im Interesse des Landes zu erledigen.

Augen zu und durch: Das schien das Motto zu sein, mit dem May in den vergangenen Wochen versuchte, mit Brüssel auf einen grünen Zweig zu kommen und ihren Brexit-Deal allen Widerständen in London zum Trotz durchzuziehen. Totalversagen warfen ihr die Hardliner vor; in Scharen sprangen ihr die Kabinettsmitglieder ab. Doch May pilgerte unermüdlich durchs Land, um weiter für ihren Deal zu werben. Als sich dennoch eine krachende Niederlage im Parlament abzeichnete, blies sie diese kurzerhand ab, um es erneut mit Nachverhandlungen in den europäischen Hauptstädten zu versuchen. Bisher umsonst. Abgerückt ist sie von ihrem Kurs trotz allem nicht. „Sie braucht lange, bis sie sich eine Meinung gebildet hat“, sagen Mitarbeiter über sie. „Aber wenn sie eine Entscheidung getroffen hat, zieht sie die durch.“

Mehr Schmerzen als Freuden

Erst das Chaos unmittelbar nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016 hatte Theresa May ins Amt gebracht. Die damalige Innenministerin wurde nach dem unrühmlichen Abgang von David Cameron von den Tories zur neuen Regierungschefin gekürt. Den Brexit selbst hat sie nie gewollt – May hatte beim Referendum für einen Verbleib geworben. Dennoch warf sie sich als Regierungschefin in die Schlacht, um den Auftrag der Wähler umzusetzen und für die Briten das Bestmögliche herauszuholen. Den Brexiteers ist das nun viel zu wenig. Sie werfen May Verrat vor – sie habe Großbritannien in diese missliche Lage geführt. Dass die Versprechen der Ausstiegsbefürworter, dem Königreich stünden – wäre es erst draußen aus der Gemeinschaft – goldene Zeiten bevor, auf tönernen Beinen standen und dass der Ausstieg unter Umständen mehr Schmerzen als Freuden bringt, wird vielen erst jetzt klar, wo die Scheidungspapiere ausgehändigt wurden. May dafür die alleinige Verantwortung in die Schuhe zu schieben, kommt Kindesweglegung gleich.

May wuchs, wie Merkel, als Pastorentochter in einem konservativen Umfeld auf, diesfalls in Eastbourne, einer Stadt am Ärmelkanal. Auf die Frage, was das Frechste gewesen sei, was sie jemals unternommen habe, wird May später erzählen, als Kind mit Freunden durch die Weizenfelder gezogen zu sein – die Bauern habe das sehr aufgebracht. Extravagant ist an May bis heute am ehesten ihr Schuhwerk. Sie studierte zunächst Geografie an der Elite-Universität Oxford, arbeitete später bei der Bank of England und wurde 1986 erstmals Gemeinderätin. Von 2002 bis 2003 war May die erste Generalsekretärin der Konservativen. Ihren Ehemann lernte sie in einer Diskothek kennen – bis heute einer ihrer wenigen und verlässlichsten Vertrauten. 2010 wurde sie schließlich Innenministerin und bekannt für einen beinharten Kurs gegen Migranten.
Leicht zugänglich ist Theresa May nicht; an den Stammtischen ist sie nicht zu Hause, und Schulterklopfen ist auch nicht Ihres. Ihre Gegner nennen sie stur und gefühllos, man könnte es wohl auch standfest und sachlich nennen. Wegen ihres gelegentlich hölzernen Auftretens handelte sie sich den Beinamen „Maybot“ ein, in Anlehnung an mäßig spontan kommunizierende Roboter.

Jetzt, wo sich in London die Emotionen mit jedem Tag mehr aufheizen, steht May scheinbar ungerührt mitten im Sturm. Eine neue „Eiserne Lady“? Zumindest Europa gegenüber tat sich Margaret Thatcher damals mit dem Briten-Rabatt wohl leichter.
Fehler hat sie begangen, keine Frage. Der größte: die Neuwahlen, zu denen sie sich 2017 bei günstigen Umfragewerten verleiten ließ. Dennoch scheiterte May dramatisch. Anstatt bis 2020 mit absoluter Mehrheit regieren zu können, braucht May seit damals die Stimmen der nordirischen Unionisten (DUP). Und auch die werfen ihr ihren Brexit-Deal wütend zurück auf den Tisch.

Sie nimmt's sportlich

Theresa May nahm sich, wie sie in einer Pressekonferenz verkündete, für ihre Brexit-Mission die britische Cricket-Legende Geoffrey Boycott zum Vorbild: „Er ist immer drangeblieben. Und am Ende hatte er Erfolg“, erklärte sie der verdutzten Weltpresse. Ob May sich selbst jemals an dem Schlagballspiel versuchte, ist unbekannt. Ihre Mannschaft lässt sichtbar zu wünschen übrig. Doch aufgeben, so viel steht fest, will sie deswegen noch lange nicht.