Die Ankündigung klang lapidar. „Ja, Russland hat das Abkommen verletzt“, antwortete US-Präsident Donald Trump am vergangenen Samstag auf die Frage eines Reporters: „Also werden wir die Vereinbarung beenden.“ Während in Europa die Alarmglocken sofort schrillten, sind die Reaktionen in den USA bislang bemerkenswert verhalten. Keine große Zeitung brachte das Thema auf der Titelseite, massiver Protest blieb auch aus.

Das mag an der komplexen Materie des Vertrages liegen, der am 8. Dezember 1987 von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow anlässlich eines Gipfeltreffens in Washington unterzeichnet wurde und etwas mehr als ein halbes Jahr später, am 1. Juli 1988, bei einem weiteren Gipfeltreffen in Moskau in Kraft trat. Oder auch daran, dass die USA von der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen nicht betroffen wären.

Auch hoffen einige Politiker darauf, dass der selbst ernannte Dealmaker Trump bislang nur eine Absicht geäußert habe. „Das könnte auch eine Art Wegbereiter sein, um die Russen wieder zur Vertragstreue zu bringen“, sagte der republikanische Senator Bob Corker, der den Auswärtigen Ausschuss des Senats leitet.

Kein Anlass zu Optimismus

Zu derlei Optimismus gibt es wenig Anlass. So hegt Sicherheitsberater John Bolton gegenüber jeglicher Rüstungskontrolle schwerste Vorbehalte. Entsprechend negativ sieht er den Vertrag, der den USA und der Sowjetunion den Bau und Besitz landgestützter, atomar bewaffneter Marschflugkörper und Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern verbietet. Dadurch gerieten die USA gegenüber China, Indien, Pakistan oder dem Iran ins Hintertreffen, lautet ein Argument des Hardliners.

Ein Argument hat Moskau selbst geliefert. Schon im Sommer 2014 zeigte die Obama-Regierung einen Vertragsverstoß an: Angeblich wurden zwei Bataillone mit 48 neuen Marschflugkörpern, die eine kurze Reichweite haben, bestückt. Moskau moniert umgekehrt, die Abschussrampen für den Nato-Raketenschirm könnten atomar genutzt werden.

Aus dem Senat kommen auch Mahnungen. „Es wäre ein großer Fehler, leichtfertig von diesem historischen Abkommen zurückzutreten“, sagt der republikanische Senator Rand Paul. Rüstungskontrollexperten warnen vor einem Bumerang: Weil die Belege für die russischen Verstöße unter Verschluss liegen, würden am Ende „die USA für den Bruch der Vereinbarung verantwortlich gemacht“, sagt Steven Pifer von der liberalen Denkfabrik Brookings. Doch von solchen Erwägungen lässt sich Trump selten beeinflussen.

Pokern, Bluffen, Kaffeesudlesen

Donald Trumps Verzicht auf das Washingtoner Abkommen von 1987 zeuge von wenig Verstand, sagt der sowjetische Ex-Präsident Michail Gorbatschow. Er hatte den INF-Vertrag vor 31 Jahren gemeinsam mit Ronald Reagan unterzeichnet. „Washingtons Drang, die Abrüstungspolitik zurückzudrehen, darf niemand unterstützen, das muss jetzt nicht nur Russland klarmachen, sondern jeder, dem der Frieden teuer ist.“ Moskau reagiert empört auf Trumps Ankündigung, die US-Regierung wolle den Vertrag kündigen – überrascht wirkt man nicht.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärt, solcherlei Schritte machten die Welt gefährlicher. Außenminister Sergei Lawrow bezeichnet die Ankündigung als reine Absicht, eine Entscheidung des Präsidenten habe er nicht gesehen. „Jetzt im Kaffeesud zu lesen, ist wenig produktiv.“ Die russische Seite wolle auf die offiziellen Erklärungen warten. Es ist ein Hinweis auf den laufenden Besuch des US-Sicherheitsberaters John Bolton in Moskau. Bolton verhandelte unter anderem mit dem Sekretär des russischen Sicherheitsrates Nikolai Patruschew. Heute will er die Führung des Außenministeriums treffen und später auch Wladimir Putin.

Der russische Präsident hatte schon vergangene Woche zu verstehen gegeben, Russland sei für alle Fälle gewappnet. „Wenn unsere amerikanischen Partner den Wunsch hegen, das Abkommen zu verlassen, wird unsere Antwort momentan und spiegelbildlich sein.“

Einsatz in die Höhe treiben

Beobachter in Moskau vermuten, Trump bluffe mit dem angekündigten Ausstieg oder pokere zumindest. Die Zeitung „Kommersant“ zitiert „militärisch-diplomatische Quellen“, die vermuten, Trump wolle mit seiner Ankündigung den Einsatz in die Höhe treiben, danach aber würden die USA doch verhandeln. „Die Amerikaner müssen Rücksicht auf ihre europäischen Verbündeten nehmen, denn ebendiese würden ins Visier russischer Kurz- und Mittelstreckenraketen geraten.“

Die Nachrichtenagentur RIA Novosti zitiert den Sankt Petersburger Politologen Alexander Kubyschkin, Trump steige aus dem Vertrag aus, um sofort Verhandlungen über ein neues, für die USA vorteilhafteres Abkommen zu beginnen.

Der Militärexperte Viktor Litowkin aus Moskau hingegen sagt, Trump wolle den Vertrag wirklich kippen: „Er hat der heimischen Rüstungsindustrie mehr Aufträge versprochen. Und er will ein neues Wettrüsten mit Russland, in der Hoffnung, dass es dabei wie einst die Sowjetunion wirtschaftlich zusammenbricht.“ Schließlich würden ja die Mittelstreckenraketen, die Russland als Antwort stationieren müsse, auf Europa zielen. „Damit will Trump das Verhältnis zwischen den europäischen Ländern und Russland weiter verschlechtern.“
Das Abkommen untersagt Russen und Amerikanern, landgestützte Atomraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern aufzustellen. Es führte zur Verschrottung von 846 amerikanischen und 1846 sowjetischen Atomraketen.

Seit Jahren werfen sich beide Seiten vor, den Vertrag zu brechen. Die USA meldeten 2014 russische Tests neuer Mittelstreckenraketen. 2017 verkündeten sie, Russland habe bereits zwei Bataillone mit nuklearen Raketen ausgerüstet, deren Reichweite bei 2000 bis 2500 Kilometern liegt.

Moskau versichert, es gebe keine solchen Raketen. Seinerseits wirft der Kreml den Amerikanern vor, sie nutzten bei den Tests ihrer Anti-Raketen-Systeme verbotene Pershing-II-Flugkörper als Zielobjekte. Vor allem aber installieren Amerikaner laut Kreml für ihr Anti-Raketen-Schild in Rumänien und Polen Aegis-Ashore-Systeme mit Abschussrampen, von denen man seegestützte Tomahawk-Raketen mit einer Reichweite bis 2500 Kilometer abfeuern könne. Nach Ansicht von Experten ist es für beide Seiten kein Problem mehr, Rampen für solche Raketen am Boden oder auf Lkws zu installieren. Oder taktische Raketen aufzurüsten, wie die Iskander-M-Raketen, die 480 Kilometer weit fliegen können. „Dafür reicht ein größerer Treibstofftank“, sagt Litowkin.

Der INF-Vertrag habe regelmäßige gegenseitige Kontrollen sichergestellt, sagt Litowkin. „Das Vertrauen zwischen beiden Seiten droht sich nun Richtung Nullpunkt zu bewegen.“

Karl Doemens (Washington), Stefan Scholl (Moskau)